Als brillanter Tanzkonfektionär des Zaren definiert Marius Petipa nach wie vor den Standard, zu dem alle in der heutigen Ballettwelt aufblicken und sich messen. Seine mehr oder weniger exakt überlieferten Werke, von der bearbeiteten „Giselle“ bis zur „Raymonda“, sie bleiben die Grundpfeiler des Klassikrepertoires. Doch selbst sein „Schwanensee“ von 1895 ist erst nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland ein echtes Repertoirestück geworden. Und in Amsterdam hat es jetzt den 60. Geburtstag des Het Nationale Ballet gebraucht, dass man sich „Raymonda“, diesen rauschhafte Abendfüller in drei Akten, als holländische Erstaufführung gegönnt hat.
Petipas letztes bedeutendes Werk von 1898 ist nur in einigen Teilen, vor allem der Traumszene und der ungarischen Hochzeit zum Finale überliefert. Und trotz Alexander Glasunows prachtvoller Musik wurde das dramatisch dünne Ding um eine provenzalische Adelsdame, die sich zwischen einem Ritter und einem Sarazenen nicht entscheiden kann und mit Hilfe einer weißen Geisterdame dann doch im sicheren Ehehafen landet, außerhalb Russlands nie wirklich populär.
Und es wird inzwischen natürlich auch ein Opfer politischer Korrektheit. Die weiße Lady und der arabische Scheich aus Cordoba, da darf es natürlich keinen Unterschied zum langweiligen Ritter Jean de Brienne geben. Beide müssen für sie gleich attraktiv sein, Abd al-Rahman darf nicht als böser, aufdringlicher, womöglich vergewaltigungsbereiter Wilder gezeigt werden, keine rassische Überheblichkeit des Westens, bitte.
Und während Tamara Rojo in ihrer kürzlich wenig überzeugenden Neufassungsversuch beim English National Ballet die „Raymonda“ als Florence Nightingales Krankenschwestergefährtin in den Krim-Krieg verpflanzt hat, bekam sie am Ende doch ihren Ritter. Im weit wokeren Holland, wo als Oberverantwortliche die einstige starke Hans-van-Manen-Ballerina Rachel Beaujean die dramaturgisch-chorografischen „Raymonda“-Fäden zwischen Rekonstruktion und Bearbeitung in der Hand hielt, darf Raymonda am Ende ihren wohlerzogenen Scheich heiraten. Auch sein islamischer Hintergrund ist kein Problem – seltsam in einer christlich-mittelalterlichen Umgebung.
Ein Gespenst gibt es auch nicht. Dafür hat Beaujean (DNB-Direktor Ted Brandsen ist wiederbelebend beteiligt) zudem viele beschwerende Divertissements weggeschnitten, die Kinder fehlen ebenfalls. Die Tanzfolge wurde so geschickt verflüssigt und die gelichtete, immer noch nobel walzerselige Partitur zum Angelpunkt dieser Version gemacht. Was sich schon durch Vello Pähns zauberzartes, dabei beschwingt tanzgemäßes Dirigat aufs Schönste legitimiert.
Beaujean arbeitete auch eng mit Grigori Tchitcherine, früher Solist beim Mariinsky Ballet, zusammen, um so viel wie möglich von Petipas Originalchoreografie auf die Bühne zu bringen. Die beiden verbrachten über zwei Jahre damit, zu recherchieren – von den Notationen von Vladimir Stepanov aus dem Jahr 1898 bis zu Konstantin Sergeyevs Version von 1948, die immer noch vom Mariinsky aufgeführt wird. Aber vieles wurde auch neugefasst, obwohl es alt aussieht.
Designer Jerôme Kaplan, der auch viel für Alexei Ratmansky arbeitet, verlässt sich auf die schmeichelnde Bildhaftigkeit seiner diffus jugendstilig dem englischen Päraffaelismus wie der Arts & Crafts-Bewegung angenäherten 450 (!) Kostüme und Räume. Beaujean kontrastiert westliches Kavalierstum mit orientalischem Muskelspiel, was seiner Protagonistin, der stilistisch klaren, technisch makellosen Anna Tsygankova die Entscheidung nicht schwer macht. Leichtgewichtig neoklassischen Gruppenarrangements stellt sie die ornamental axiale Pracht des originalen ungarischen Final-Pas-de-Deux gegenüber, auch die beiden sprungkräftigen Männer Jean de Brienne (Arthur Shesterikov) und Abd al-Rahman (Giorgi Potskhisvili) sind tänzerisch scharf voneinander abgesetzt. Und jede Frau würde sich natürlich für den temperemantvollen Fremden und nicht für den faden Ritter entscheiden. So ist dieses gegenüber dem Original gestärkte Stück bis hin zum herrlich zelebrierten Grand Pas Classique Hongrois, ein romantischer Genuss ohne Reue, spektakelsatt, aber ohne zu viel Kalorien. Das Publikum reagierte begeistert.