Zeitlosigkeit und ein 80. Geburtstag – für die schlanke, gern ein wenig strenge Lucinda Childs ist das kein Widerspruch. Obwohl sie einst sehr zeitgenössisch war, mit ihren postmodernen Arbeiten die Tanzgeschichte seit den Siebzigerjahren wesentlich geprägt hat. Aber anders als viele ihrer künstlerischen Mitkämpfer an der einst revolutionären Judson Church School, wurde sie eine entspannte Klassikerin zu Lebzeiten, während man den anderen dann doch ihr Zeitverhaftetsein ansieht. Denn schon früh war Lucinda Childs keine Einzelkämpferin, legendär ist ihre langjährige, ersprießliche Zusammenarbeit mit dem nur wenig jüngeren Robert Wilson. Und selbst als Opernregisseurin in Straßburg oder Kiel verdiente sie sich Lorbeeren.
Geboren wurde Lucinda Childs am 26. Juni 1940 in New York, schon an ihrer privaten Mädchenschule auf der Upper East Side zog es sie in den Ballettsaal. Später nahm sie Tanzunterricht bei den Pionierinnen Hanya Holm und Helen Tamiris, bevor sie am Sarah Lawrence College bei Judith Dunn, Bessie Schönberg und Merce Cunningham studierte. Nach ihrem Abschluss wechselte sie 1962 ins Cunningham Studio. Hier traf sie Yvonne Rainer, die sie ein Jahr später ans Judson Dance Theater holte, die schnell legendäre Experimentierschmiede in einer Kirche direkt am Washington Square.
„Judson machte mich neugierig auf Tanz, aber das Studio verursachte auch eine Zerrissenheit zwischen verschiedenen Dingen: Technik, Arbeiten außerhalb des Tanzvokabulars, Verwendung von Objekten und Text.“ Sie lässt sich darauf ein, performt, bezieht Alltagsgegenstände in den Tanz mit ein, entwickelt aber zielbewusst die eigenständige Ästhetik.
1973 gründete Lucinda Childs ihre eigene Dance Company. Für Robert Wilsons Anti-Oper „Einstein on the Beach“ zu Musik von Philip Glass war sie 1976 als Choreografin und Solistin engagiert. Sie prägte entscheidend die neue, bahnbrechende Ästhetik, tanze selbst Jahrzehnte später bei den weltweit tourenden Wiederaufnahmen noch mit. Und arbeitete auch später immer wieder mit ihm zusammen.
Die Begegnung mit Philip Glass’ Musik markiert ein wesentliches Element in Childs Werdegang. Gemeinsam mit dem Konzeptkünstler Sol LeWitt entwickelten Glass und Childs 1979 das minimalistische Stück „Dance“, das zu einem bis heute prägenden wie vielgespielten Werk der jüngeren Tanzgeschichte wurde, Seither wurde und wird Childs regelmäßig von renommierten Opernhäusern und -festivals als Choreografin beauftragt, etwa vom Pariser und dem Lyoner Ballet de l‘Opéra, dem Pacific Northwest Ballet, dem Ballett des Genfer Grand Théâtre und dem Ballet de l’Opéra du Rhin, den Staatsballetten in München und Berlin, den Salzburger Festspielen und dem Ballett der Mailänder Scala. Neben diversen französischen wie italienischen Barockopern inszenierte sie auch Werke von Strawinsky.
Sie wird bis heute geschätzt für ihren schnörkellos minimalistischen, gern auch etwas dünnlippig kühlen, dabei immer raffiniert musikalischen Stil. Dabei schimmert die Klassik stets durch, bisweilen auch das Repetitiv-Akademische. Dafür erhielt sie den Bessie-Award und in Frankreich, wo man sie besonders verehrt, den Ordre des Arts et des Lettres.
Was Ivan Nagel einst über sie sagte, das gilt auch noch heute: „Strenge und Einheit der Formen herrschen über jede Arbeit der Choreografin Lucinda Childs. Allein ein innerer Widerspruch und Stachel verhindert, dass sie blass und leer wirken. Purismus schlägt in kalt entfesselte Energie um. Abstraktion in nicht nur gegenstandslose, sondern sujet- und ausdruckstilgende Wut, ja Besessenheit.“ Lucinda Childs, sie ist eine Unterkühlte, Strukturliebende, aber keine Teilnahmslose. In ihren besten, ja hypnotischen Arbeiten versetzt sie die Zuschauer mit oft einfachen, aber komplex verschachtelten Loops in Trance, hebelt jedes Zeitgefühl aus und entwickelt – gar nicht so unterschwellig – Leidenschaft. Lucinda Childs die Choreografin und Menschenbewegerin aus Manhattan. Die gegenüber ihren rechtschaffen irdisch ackernden Zeitgenossen immer ein makelloser Hauch von Ewigkeit umweht.