
Und endlich kommt – zum 250. Johann-Strauss-Geburtstag – der Tanz. Zum Finale des Jubiläumsjahres, da eigentlich schon am 25. Oktober vorüber war und das sich die Stadt Wien 22 Millionen Euro hat kosten lassen, gastiert vom 3.-6. Dezember das Ballet du Grand Théâtre de Genève mit einer eigens kreierten, ambivalenten Apotheose seines marokkanisch-belgischen Chefs Sidi Larbi Cherkaoui im Wiener Museumsquartier. Der weltweit gefeierte Starchoreograf hat zu Live-Begleitung des Orchestre de la Suisse Romande unter dem uniwienerisch zupackend-vorantreibenden Constantin Trinks eigens einen doppeldeutigen „Bal Impérial“ geschaffen.
Dem geht freilich sein schon 2013 an der Opéra de Paris gemeinsam mit dem Choreografen Damien Jalet, der bildenden Künstlerin Marina Abramovic und dem damaligen Givenchy-Chefdesigner Riccardo Tisci entstandener „Bolero“ voraus. Der hebt sich sehr deutlich vom auf einem Tisch zentrierten chorgrafischen Maurice-Béjart-Klassiker von 1970 ab. Obwohl es hier auch rund geht, bzw. sich dreht. Zwischen neun und elf Tänzerinnen und Tänzer sind in flexiblen Formationen auf der Bühne.

Die ist zunächst dunkel, alle marschieren stampfend in schwarzen Roben zur Rampe, bevor leise-bedrohlich die kleine Trommel Maurice Ravels unwiderstehliches Ostinato mit kaum merklichen Variationen beginnt, welches die folgenden 17 Minuten fesseln wird. Constantin Trinks dirigiert auch die flexibel, doch spannungsstark, ganz langsam sich ins Bedrohliche anwachsend. Bald fallen die Kutten, wir sehen Menschen, scheinbar nackt unter transparenten Organza-Kleidern. Die freilich sind allerfeinst bestickt und als sie fallen, offenbaren sie hautfarbene Ganzkörperanzüge, die ebenfalls mit weißer Spitze in Form eines stilisierten Skeletts versehen sind. Dazu passend sind die Gesichter zum Teil schädelhaft schwarz bemalt.
Das sich nun ebenfalls langsam steigernde Drehen der mal einander näherkommenden, dann wieder auseinanderdriftenden Körper kumuliert als tantrischer Reigen in einer verschlungen und Entschleuderung zwischen der wiederum eine Person im Umhang triumphal die Hände verschränkt – Blackout, Applaus. Der Liebestanz wurde zum Todessog, Gewalt und Leidenschaft sind hier eins im Sterben in Schönheit. Das zudem suggestiv strudelartig zugespitzt wird durch Marina Abramovics schräge Spiegelwand hinter der Szene. Die reflektiert nicht nur die stets graziösen und doch morbide ineinandergleitenden Protagonisten, sondern auch den Tanzboden auf dem sich Ringe, Digitalschnee, Muster und Schlangenlinien schwindelerregend überkreuzen.

Nach der Pause folgen statt der angekündigten 70 fast 90 Minuten „Bal Impérial“. Der bezieht sich natürlich einerseits auf eines der berühmtesten Ballettstücke von George Balanchine, das grandios den Geist der Petersburger Klassik ziselierend beschwörende „Ballet imperial“ aus dem Jahr 1941 auf das 2. Klavierkonzert von Peter Tschaikowsky (nach dem es 1973 umbenannt wurde). Anderseits war ein kaiserlicher Ball zumindest im Habsburger Reich der vielen Völker, das zur Johann-Strauss-Zeit in glanzvollster, wenn auch nicht mehr machtvollster Blüte stand, ein Manifest der Überlegenheit der Wiener Nomenklatura, eine spätabsolutistische Machtdemonstration wie -manipulation in der Hofburg, zelebriert mit Musik und Tanz im ewigen Defilée als gäbe es kein Morgen
Daran erinnert die schwelgerische Ausstattung von dem berühmte Filmdesigner Tim Yep („Tiger and Dragon“). Wir sehen zunächst Herren in weißen Hosen und roten Westen, es sieht nach Jagdausflug aus, auch weil sie spielerisch zu fechten scheinen, während aus dem Graben ein Csardas rhythmisch fesselt. Zum orientalisch-schrägen Marsch – ein weiterer musikalischer Verweis auf den taumelnden Vielvölkerstaat – schreiten hingegen die Damen grotesk in ihren herrlichen Roben um eine mit Blumen und Früchten sowie Kandelabern auf rotem Samt üppig dekorierte Tafel.

Doch einiges stimmt hier nicht. Die Männer tragen bald Soldatenuniformen des 18. Jahrhunderts, die Frauen wiegen sich in Biedermeierroben. Die allerdings sind mal vorne, mal hinten radikal gekürzt, zeigen ungebührlich viel Bein und Hintern. Außerdem mischen sich auch Kleider und Geschlechter: Alles ist fluider als es scheint. Auch weil man zwischen Intimität und Abgrenzung schwankt, die Musik diszipliniert, eine Facon schaffen will, innerhalb derer sich die Tanzenden Freiheit und Leichtigkeit, durchaus auch die Grenzüberschreitung leisten und herausnehmen. Denn vieles ist Fassade, alles Inszenierung. Auch die plötzlich im Hintergrund stehende neogotisch-kirchenhaft anmutende Rückwand mit ihren Säulen und bunten Fensterscheiben.

Wo wiederum ein in den lokalen Klischee versumpfender Balanchine 1977 „Vienna Walzes“ choreografierte und sich in totaler k.u.k.-Nostalgie verliert, da wird Sidi Larbi Cerkaoui wach und kritisch, kriecht unter die Klischees, sucht die Dynamik der Macht im Tanz als Spiegel der Gesellschaft. Etwa im Donauwalzer, der sich nach mehr als einer halben Stunde als erst zweiter (nach den „Rosen aus dem Süden“), wirklich bekannter der großen Johann-Strauss-Sohn-Kompositionen entfaltet, von denen hier insgesamt elf Verwendung finden. Doch selbst diesmal findet kein Dreivierteltakt-Delirium, kein seliges Vergessen statt. Die Tanzenden fallen immer wieder hin, sinken synchron zu Boden, stehen auf, machen weiter. So wie diese längst angekränkelte Gesellschaft, dem Untergang geweihte Gesellschaft.
In die Sidi Larbi Cherkaoui, das kann er ja so gut, einen weiteren Keil hineingetrieben hat. Er sprengt das scheinbar Harmonische mit der Waffe des Exotismus. Er stellt nämlich ein noch ferneres, damals ähnlich restriktiv dem Konservatismus verhaftetet Volk dem kakanischen Walzerwahn als Kontrast gegenüber: die Japaner; auch sie ein Kaiserreich, wo Musik und Tanz auch als Waffen der Abgrenzung wirkten.

Deshalb ist schon ganz zu Anfang, in der Männergruppe ein neugierig bestaunter Samuraisäbel zu sehen, später spielt damit ein Bärtiger seinen Selbstmord durch: Der Mantel der Zivilisation ist sehr dünn, das Büffet wartet auf die Raubtiere. Es kommen aber nur, mit Trommel, wimmerndem Streichinstrument und Stimme, drei japanisch-statisch-stoische Musiker – Tsubasha Hori, Shogo Yoshii und Kazutomi „Tsuki“ Kozukil. Sie sind eigentlich nur still, schwarz, fremd, andres. So wie sie ihre Musik konsequent zwischen die Quadrillen, Traumbild-Fantasien und Polkas aus der Strauss-Tanzfabrik interpolieren, das Gefällige zum Stocken bringen. Aber sie verstören doch nachhaltig die 21 Tanzenden, die auch in Martial Arts und Tangos unterrichtet wurden, während es nie zu einem echten Walzer linksherum langt.

Protokoll und Begierde: Das ist so raffiniert, wie spannend anzusehen. Bisweilen ist es zudem bewusst enervierend hinausgezögert. Denn das Ritual vereint, tröstet, feiert. Und auch diesmal wieder erweist sich der Tanz als Pompe Funèbre und Vorstufe zum Tod, aus dem sich immer mehr der düster schwarze Dylan Phillips herausschält. Man stirbt, man bringt sich um, irgendwie läuft die Mechanik aber noch weiter, ausgerechnet zum „Accelerationen“-Walzer. Masken erscheinen, eine geisterhafte Samurai-Figur mit vielen, fast schwingenhaft stilisierten Schwertern auf dem Rücken. Auch vorher schufen schon ein weiß- und zwei schwarzgekleidete Herren, sowie ein Paar in Japantracht in der uniformen Männerriege Unruhe. Memento moris sie alle?

Als Konsequenz dieses sinn- wie rauschhaften Todesduo aus „Bolero“ und „Bal Impérial“ hätte jetzt durchaus noch Ravels Tondichtung „La Valse“ den chorografischen Gedankengang Sidi Larvi Cherkaouis zum Trio weiten können: Denn darin fährt, wiederum in nur wenigen Minuten, die sich überlebt habende Vorkriegsgesellschaft 1918, nach dem frivolen Tanz auf dem Vulkan, endgültig in den Orkus. Wird es 2025 anders? Dieses Johann-Strauss-Jubiläumspralinée ist jedenfalls ziemlich vergiftet.