„Bequeme Schuhe“. Man kann Brigit Nilsson nicht oft genug zitieren mit ihrer Antwort, was das Wichtigste für eine Wagner-Heroine wäre. Vielleicht auch für die zunehmende Anzahl von Dirigentinnen? Denn nicht jede balanciert auf sehr hohen Heels so professionell wie die eben frisch erblondete Simone Young. Die auch schon 31 Jahre alte Spanierin Isabel Rubio, die zusammen mit drei anderen Damen und acht Herren das Finalkonzert der diesjährigen Järmi Academy im estnischen Pärnu bestritt – wie immer unter der Anleitung von Neeme (diesmal nur per Zoom aus Florida), Paavo und Kristjan sowie des guten Akademiegeistes Leonid Grin – sie schien mit ihren gar nicht mal so hohen Schuhen massive Probleme zu haben.
Zwar dirigierte sie einen vitalen, rubatogestauchten Kaiserwalzer, souverän und mit Wiener Feeling und sie sah auch – gegen ihre verhuscht-unauffälligen Konkurrentinnen – in kräftigblauer Jacke, mit weißer Schluppenbluse und scharf blondiertem Haar richtig gut aus, aber dann fiel Isabel Rubio hin: gleich zweimal! Erst beim Zuschreiten auf das Podest, was sie noch mit einem formvollendeten Reverenza wett machte, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. Dann aber nochmal, sie dirigierte auswendig, mitten im Walzen, da war sie plötzlich wie vom Podest gefegt. Und trotzdem rappelte sie sich immerhin geistesgegenwärtig schnell wieder auf und machte weiter, als wäre nichts gewesen. Professionell ist sie also, die Dame. Und diesen unfreiwilligen Auftritt, den wird man sich unbedingt merken.
Er war leider schon das einzig Bemerkenswerte beim diesmal wegen der schwierigen Reisewege nicht ganz so international durchmischten Taktstockkader im estnischen Seebad. 17 waren aktiv dabei, darunter insgesamt fünf Frauen, doch selbst die koreanischen und amerikanischen Teilnehmer leben in Europa. Aber trotz beeindruckender Biografien samt selbstgegründeten Projektorchestern, langen Assistenzahnenreihen und Meisterklassen die Menge, so richtig sprang der Kandidatenfunke in der Pärnu Concert Hall nicht über, obwohl das Publikum nicht mit Beifall geizte.
Bei zweimal Kaiserwalzer, zweimal das undankbare, weil weitgehend als Unisono-Adagio ablaufende „Vesper“ der im Mai im Alter von 99 Jahren gestorbenen estnischen Komponisten-Doyenne Ester Mägi, Sibelius‘ Andante Festivo sowie das auf drei bzw. vier Teilnehmer aufgeteilte, etwas romantik-lahme, aber trotzdem meistgespielte estnische Klavierkonzert (Nr. 1 G-Dur) von Artur Lemba (1885-1963) und Dvoraks Neunte Sinfonie hörte man diesmal kein herausragendes Talent.
Wobei das Dvorak-Männerquartett morgens in der Probe noch viel vitaler und griffiger losgelegt hatte. Selbst dieses Abräumstück hing dann abends in jedem Satz irgendwann durch, vor allem die Horntruppe des sonst sehr engagierten Järvi Academy Youth Symphony Orchestra (die ja hier auch von Lehrern aus dem Festival Orchestra gecoacht werden) wirkte sehr unkonzentriert. Immerhin spielten an den hinteren Pulten einige der Instrumentalstars aus dem EFO mit, Konzertmeister Florian Donderer sogar bei den zweiten Geigen. So sieht echte Nachwuchspflege aus!
Und wenn schon musikalisch bei den durchaus reifen Zöglingen nicht so viel abging, es war wieder mal spannend, die Auftrittsmode der jüngeren Klassikgeneration zu studieren. Im Frack kam nur noch der treffsichere Pianist Mikhel Poll, ansonsten gab es blaues Hemd, schwarze Bluse, Anzug mit Hemd und Fliege, Jackett zu T-Shirt. Die „Neue Welt“-Truppe, erschien, zumindest drei Viertel davon, abgesprochen mit roten Krawatten zu weißen oder schwarzen Hemden, einer sogar mit roten Socken; der etwas müden Interpretation hat es nichts genützt.
Das Pärnu Music Festival, es ist auch in seiner zweiten Dekade neben den zwei großen Sinfoniekonzerten des Festspielklangkörpers immer auch ein Ort für interessante Kammermusik und weitere Orchester. Neben dem Jugendorchester und der Sinfonietta waren 2021 die Sinfonietta Riga und das vorwiegend für seine eigenen Werke dienende Projektorchester New Ideas Chamber Orchestera NICO des litauischen New Classics Komponisten Gediminas Gelgotas mit dabei. Und erstmals gab es auch Gratiskonzerte in der Kurmuschel am Strand, die vom Pärnu City Orchestra sowie zwei wichtigen Truppen für den lokalen Holzbläsernachwuchs, dem Orchester der Estnischen Verteidigungskräfte sowie dem Estnische Polizei- und Zollorchester, bestritten wurden. Auch Paavo Järvi hob dort den Taktstock.
In der holzhellen, außen nun schon länger eingerüsteten barocken Elisabethkirche mit ihren klassizistischen Emporen spielte das estnische, aber halb in Berlin lehrende M4gnet Streichquartett mit feiner Linie und großer Intensität nachmittags das 3. Quartett Ludwig van Beethovens und das in seinem komplexen Allegretto gipfelnde Sechste von Dmitri Schostakowitsch. Die Stille im sonnenfleckengetupften Saal machte dann aber mit dem Technobässen von außen deutlich, dass sich dieses Festival mitten in einem gerade am Wochenende doch sehr belebten Seebad ereignet. Ein wenig Wirklichkeit hat der Klassik noch nie geschadet.
Gelegenheit, die individuellen Musiker des EFO, aus einer Vielzahl anderer Klangkörper und Institutionen kommend, zumindest als Solisten kennen zu lernen, bietet alljährlich die Pärnu Music Festival Gala. Da vereinten sich anfangs Artur Podlesniy, der russische Kokonzertmeister des Frankfurter Opernorchesters und Konstantin Sellheim der Solobratscher der Münchner Philharmoniker in schönster Harmonie beim C-Dur-Duo von Jean Sibelius
Eugenia Grauer, Konzertmeisterin der Südwestdeutschen Philharmonie, Gilard Karni, Solobratscher beim Orchester der Tonhalle Zürich und der Solocellist der Münchner Philharmoniker, Thomas Ruge, spielten etwas unterkühlt das Schubert-Streichtrio in B-Dur.
Bei Eduard Tubins atmosphärischer Saxophonsonate hätte man natürlich gern das Original gehört, aber dann hätte der spannend spielende freie Bratscher Andres Kaljuste nicht antreten können, der von Sophia Rahman kundig am Klavier begleitet wurde.
Ester Mägi, deren Werk sich diesen Sommer durch viele Programme zog, hatten Flötistin Maarika Järvi (ja, die Schwester) und Geigerin Sharon Roffman, zweite Konzertmeisterin bei der Bremer Kammerphilharmonie wie dem EFO und ständiger Gast beim Royal Scottish National Orchestra ausgewählt. Mägis „Duos im nationalen Idiom“ sind reizvoll miniaturhafte Folkloresplitter, in bannende Kunstmusik verwandelt.
Trötenden Spaß verbreiteten dann die vier Festivalorchesterhornisten mit Bizets „Carmen“-Suite. Alec Franc-Gemmill, Björn Olsson, Adrian Diaz Martinez hatten rote Fliege, Krawatte oder Hosenträger angelegt, zudem Rosen im Schalltrichter, um so die ganz in Spanischrot gewandete Paula Ernesaks zu bezirzen und zu bekiecksen. Die aber blies ihnen als gehörnte Carmen eins. Zum hellen Spaß des Publikums.
Große, kostbar kammermusikalische Glücksmomente ereigneten sich dann finalfreilich in Mozarts Klarinettenquintett: Matthew Hunt, von Bremen bis Pärnu ein echter Star, spielte so fluide wie zartfühlend und trotzdem mit dezenter Beiläufigkeit, Triin Ruubel, Emma Yoon, Florian Donderer und Theodor Sink waren ihm eben nicht Sekundanten, sondern feingestimmte Partner.
Das war höchste Perfektion, locker serviert. Pärnu-Style und -Klasse eben. Und jetzt ist Zeit für das Festival-Wasserloch Café Passion…