Pärnu 2021 zeigt sein wahres Gesicht: das Musikfestival ohne Maske – aber schön!

Immer wieder greife ich mir während des Konzerts ins Gesicht: Da fehlt doch was! Ja, die Maske. Und direkt neben mit sitzen trotzdem Leute, die die Pärnu kontserdimaja, die 2002 für Urvater Neeme Järvi erbaute Konzerthalle in Pärnu am Pärnu bis auf den letzten der 896 Plätze füllen. Sie alle durften ohne Impfpässe oder Testnachweise in den Saal. Alles ist, wie es früher war. Und das ist gut. Sogar die prächtig aufgehübschten Estinnen – Fächer, viel Spitze, noch mehr Blond, gern mit sehr hohem Keilabsatz – sie sind wieder aufmarschiert und bevölkern die Outdoor-Fotowand.

So trotz man in Estland der Inzidenz 45. Ich habe meine zweite Impfung intus (nach Astra Zeneca nun Biontec) und sollte jetzt kreuzvakziniert eigentlich unverwundbar sein. Zumindest fühle ich mich so. Auch wenn es komisch ist, doch man gewöhnt sich sehr schnell an die neue, alte Wirklichkeit.

Hallo, ich bin wieder da, zum dritten Mal in Pärnu bei dem wunderbar sympathischen Musikfestival des Järvi-Clans unter Führung von Paavo, der hier aus der ganzen Welt seine Instrumentalfreunde und die besten blasenden wie streichenden Esten zum erweiterten Familienensemble Estonian Festival Orchestra (EFO) zusammenführt. Er hat es sogar im ersten Corona-Sommer 2020 möglich gemacht, auch wenn der 2011 gegründete Klangkörper umstrukturiert wurde. Und selbst dieses Jahr können die japanischen Musiker nicht dabei sein, auch zwei englische Hornisten mussten passen (aber die Englischhornistin ist da), dafür kommen zu Besetzung von diesen Sommer 70 erstmals zwei Instrumentalisten vom Orchester der Züricher Tonhalle dazu, Paavos neuestem Chefposten. Dort steht auch am 15. September endlich die Neueinweihung der rigoros im alten Schnörkelstil aufgepimpten Halle an. Aus Zürich ist zudem eine ziemlich vielköpfige Freundeskreistruppe da.

Das Wetter ist Top, und während das geplagte Westdeutschland unter Regenmassen versunken ist, herrschen an der Estnischen Riviera am Rigaer Meerbusen leicht windende 30 Grad, das Sommerleben ist hier sorgenfrei. Und abends streben aus dem schmucken Ort viele farbenfroh leicht gekleidet Menschen gen Konzerthalle. Die Restaurants werden immer internationaler, doch der leicht verschlafen-nostalgische Charme Pärnus samt Birken, Barockbauten aus der Zeit Katharinas der Großen, Jahrhundertwende-Holzvillen, Bauhaushäusern und neuen Spa-Hotels gilt immer noch. Es ist belebt, aber nicht übervoll. Nur die E-Bikes sind auch hier viel mehr geworden.

Gleichgeblieben sind auch die zwei großen Konzerte des EPO (mit diesmal sechs Järvis unter den Instrumentalisten), zwischen denen sich das Hauptgeschehen abspielt, mit spannenden Solisten und einem reichhaltigen Werkanteil baltischer Komponisten, die hier immer eine Entdeckung sind. Und mit Ouvertüre in Tallinn sowie Konzerten in Kirchen, Villen und der Kurmuschel.

Mittendrin und die Ruhe selbst: Paavo Järvi, der inzwischen in London seinen Hauptwohnsitz hat. Dazu dessen zwei Töchter. Bruder Kristjan spielt diesmal nur eine Nebenrolle. Der 84-jähre Vater Neeme, der hier, am traditionellen Ferienort der Familie, das Musikleben neuerlich vitalisiert hat, und dessen 80. Geburtstag 2017 groß gefeiert wurde, ist mit Mama Liilia zu Hause in Palm Springs geblieben, das Reisen währe in diesen Zeiten für ihn zu umständlich gewesen. Aber er nimmt per Zoom an der Dirigentenakademie teil.

Fotos: Kaupo Kikkas

Das erste Konzertprogramm wurde sogar leicht unterschiedlich zweimal gegeben. Am ersten Abend spielte zunächst Lars Vogt ein zauberisch inniges, besonders nachdrücklich in den Moll-Wendungen plastisch gestaltetes 24. Klavierkonzert von Mozart (man kann es, wie alle Konzerte auf der Festivalwebseite kostenlos nachsehen). Und nicht nur im Orchester schluckten alle gerührt ihren Kloß im Hals herunter, als der eben von einer schweren Chemotherapie sich Erholende als Zugabe ein traumverloren trauriges Brahms-Intermezzo präsentierte.

Am zweiten Abend ist der in Deutschland leider selten zu erlebende Joshua Bell da. Der Amerikaner hatte vorher schon in Deutschland konzertiert, tritt jetzt noch in Budapest und Verbier auf. Trotz über dreißig Jahren im internationalen Klassikgeschäft, sieht der inzwischen 53-Jährige immer noch blendend aus. Er, einer der ersten Nur-Hemdenträger auf dem Konzertpodium, kommt schwarzgewandet mit Paavo Järvi im Classics-in-Crime-Look.

Und spielt doch ein herrlich romantisches, mit feinem Vibrato durchpulstes Dvorak-Konzert, fest und zupackend im Auftakt, mit großer melodischer Gestik, aber auch fein ausgehört im Adagio und mit blitzendem Temperament im Finale. Das EFO geht blendend mit, der Klang der Stradivari von Joshua Bell mischt sich ideal in die Tutti, die Balance zwischen umsichtigem Dirigenten und hochengagiertem, alles gebenden, dabei stets kontrolliertem Solisten ist mustergültig.

Nach der Pause beginnt der Entdeckungsteil: Paavo Järvi hat diesmal ausschließlich Musik von Estlands erstem großen Sinfoniker Eduard Tubin (1905-82) aufs Programm gesetzt. Der floh 1944 vor der heranrückenden Roten Armee übers Meer nach Schweden und blieb dort, war als Chordirigent und Musikarrangeur tätig. Dank staatlicher Förderung war er erst ab 1966 wieder in der Lage, sich ganz seinen Kompositionen zuzuwenden. Seine Werke waren im sowjetisch beherrschten Estland lange verboten. Aber natürlich war es Neeme Järvi, der in den Achtzigerjahren mit Konzerten und Aufnahmen eine kleine Tubin-Renaissance einleite. Schon 1963 hatte er mutig Tubins 6. Sinfonie mit dem Rundfunk-Sinfonie-Orchester Estland für Melodija eingespielt.

Auch Paavo Järvi nimmt jetzt Tubin für die nächste alpha-CD des EFO auf, die dieser Tage entsteht, ebenfalls wird eine Asien-Tour nach Japan und China mit dem längst auch international gefragten Klangkörper vorbereitet. Alle sind hier optimistisch. Die heiter gelassene Atmosphäre scheint ihnen Recht zu geben.

Streng und präzise erklingt Eduard Tubins Musik für Streicher aus dem Jahr 1963. Im Pizzicato beginnen Bässe und Cello, die hohen Stimmen stellen sich mit ruhigen Unisono-Akkordflächen dagegen. Das wird lauter, harscher, aggressiver, komplexer und ruppiger, dann fast ganz still. Sanglich gelassen strömt dann der zweite Satz in seiner souveränen Verflechtung der Stimmen.

Farbenfroh, auch gewaltig percussionslaut ist hingegen die auf estnischen Folklorethemen basierende Suite aus dem ersten nationalen Ballett, dem zwischen 1938 und 1961 komponierten „Kobold“. Da gibt es Bauerntänze und einen rustikalen Landleute-Walzer, den Konzertmeister Florian Donderer über einer Bordunbegleitung wie ein Fiedler anstimmt. Der groteske Tanz des Kobolds erinnert an Mussorgsky, in den klangmächtigen Explosionen des Tanz der Exorzisten oder dem der Nordlichter erinnert so manches an die breitwandigen, buntprächtigen russischen Ballette von Strawinsky oder Schostakowitsch. Und irgendwie passt dazu auch die eher an ein Kinderkonzert-„Dschungelbuch“ erinnernder Saalausleuchtung in Laubgrün vor Plastikgebüsch auf der rückwärtigen Empore…

Eine interessante Werkbegegnung allemal, gefolgt von zwei gern gespielten Paavo-Järvi-Zugaben, dem genießerisch in seiner glänzenden Instrumentierung ausgespielten „Taiti Trot“ als „Tea for Two“-Hommage von Dmitri Schostakowitsch und dem gar nicht so leise flutend dahingleitenden „Valse triste“ von Jean Sibelius. Und dann brechen alle auf zur After-Show-Party im nahen Umberto. Sehr fischig sind diesmal die Büffets. Die Damen stehen aber vor allem für Selfies mit Joshua Bell an, die dieser gern gewährt.

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Ein Kommentar bei „Pärnu 2021 zeigt sein wahres Gesicht: das Musikfestival ohne Maske – aber schön!“

  1. Maret Zadotti-Lukk sagt: Antworten

    The first time I experienced Eduard Tubin’s music was in the Tonhalle, Zürich in the late 70’s. The conductor was Neeme Järvi. It was a honor for me to meet these two great Estonian men. It is nice to see that Paavo is continuing the tradition.

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