Wer so eine Familie hat, braucht keine Feinde mehr. Das wussten schon die alten Griechen. An der Opéra de Lyon, wo Festival-Zeit immer auch Magnolienblüte-Zeit ist, gab es jetzt die alljährliche Operntrias am properen Stagione-Haus unter dem Motto „Secrets de famille“. Das freilich ist ein um genau zwei Spielzeiten coronabedingt verschobenes Programm des inzwischen seit sechs Monaten an der Bayerischen Staatsoper amtierenden Langzeitintendanten Serge Dorny, das 2020, am Nachmittag der ersten Premiere, wegen des ersten französischen Lockdowns abgesagt werden musste. Und deshalb sind jetzt auch die dafür bereits gedruckten Programmhefte noch im alten Design in Verwendung. Die weisen Dorny als Intendanten aus – obwohl hier doch längst der ehemalige Schauspieler, heute Theater- wie Opernregisseur Richard Brunel regiert.
Dorny aber hatte für die blutigen, in jedem Fall dysfunktionalen Familiengeschichten-Trilogie gebündelt: Verdis „Rigoletto“ mit einer gestörten Vater-Tochter-Beziehung, eine Katie-Mitchell-Bach-Kurzarbeit über einen Leichenschmaus vom Festival d’Aix-en-Provence von 2014 und Franz Schrekers völlig durchgeknallte „Irrelohe“, wo Familie wirklich nur noch als Horrorfilm genossen werden kann.
Die „Rigoletto“-Produktion in der Regie des Filmregisseurs und Opernverliebten Axel Ranisch war geplant als Koproduktion mit der Bayerischen Staatsoper, wo dieser bereits eine Historie hat. Das ist sie nun nicht mehr. Und man versteht auch, wieso. Denn anstatt sich darauf zu konzentrieren, sich mit den nicht wenigen „Rigoletto“-Klischees auseinanderzusetzen, musste der sowieso schon dichten Story von genarrten Narren noch eine zweite aufgepropft werden. Die erzählt eigentlich nichts zusätzlich, aber bringt ohne Mehrwert wiedermal Ranischs Lieblingsschauspieler und irgendwie erwachsenes Alter Ego Heiko Pinkowski sympathisch, aber überflüssig auf die Bühne.
Ranisch breitet filmisch aus, wie Heiko als (Victor?) Hugo in seiner genau rekonstruierten Seventies-Butze eine „Rigoletto“-VHS-Kassette in den Rekorder schiebt und dann die Oper in Echtzeit nacherlebt. Gleichzeitig aber zeigen die kompliziert verschachtelten, in Berliner Plattenbauten spielenden Video-Rückblenden einen Mann im Kampf mit seiner sich ihm entfremdenden Tochter, die offenbar mit dem gleichen Plattenladenbesitzer anbändelt, auf den schon ihre tote Mutter scharf war; die sich dann aber mangels Erfolgsaussichten mit Heiko getröstet hat. Hugo, der den Verführer im Film niederstreckt, erlebt, durch die reale Szene tappend, diese als Opern-Déjà-Vu des eigenen Lebens mit Verdi-Soundtrack. Und vollzieht schließlich, was er schon in Vorspiel wollte: Er erschießt sich hinter dem Sofa, auf dem der Herzog Gilda Gewalt angetan hat.
Vorher hat der namenlose Potentat solches auch in einer Glitzervorhang verhüllten Replik von Hugos Filmwohnzimmer getan, aber warum hier dauernd die Perspektiven wechseln, das wird nicht so recht klar. Ist Heiko/Hugo, der das in seiner schüchternen Körperlichkeit hinreißend spielt und damit leider alle Sängerprofis auf hintere Darstellerplätze verweist, gar der Fleisch gewordene Maledizione, der Fluch des Grafen Monterone?
Rigolettos Mantua, wie es Falko Herold auf die sich schnell mit ein paar Miniaturwohnblocks verschieben lassende Lyoner Bühne stellt, ist ebenfalls eine trashig dunkle, nebeldurchzogene Plattenbausiedlung, in der es unter schwarzen Wolken nie Tag wird. Der Herzogpalast erweist sich als schmuddelige Spielhölle, ihr männliches Personal gleicht einer Rocker-Rentnergang, die Frauen sind alle nuttig oder Stripperinnen (kreischige Kostüme: Alfred Mayerhofer). Einigermaßen genderfluid geht es zudem zu.
Wirklich aufregend ist das nicht, zumal, von einigen schräg vertänzelten Ensembles abgesehen, Ranisch mit seiner ersten, alles andere als leichten italienischen Repertoire-Oper nicht sonderlich viel anfangen kann. Man spürt Emphase, aber die bleibt ziellos unsortiert. Vor allem hat er es nicht geschafft, dem ältlich routineröhrenden Dalibor Jenis (Rigoletto) und dem höhensteifen, penetrant gellenden Enea Scala (Mafioso-Duca) mehr als die üblichen Standardopernsängergesten an der Rampe abzuverlangen. Auch der Chor in Fetisch- und Jeansgewandung steht meist verlegen herum.
So sind die anrührend spieldosenzart ihre Spitzentöne zirpende und mit dieser Zerbrechlichkeit im aparten Gegensatz zu ihrem prolligen Äußeren stehende Nina Minasyan als Gilda und der schwärzlich basssatte Gianluca Buratto als Sparafucile die einzig vor allem vokal interessanten Figuren auf der Bühne, die emotional fesseln und eine Entwicklung durchmachen. Nicht aber der pennerhaft duckmäußerische Rigoletto und sein alberner Papagallo-Herr.
Ebenfalls auf der hellen Habenseite: Daniele Rustioni, der nach fünf Jahren als Chefdirigent in Lyon zum musikalischen Leiter der Opéra aufgerückt ist. Ihm gelingt eine vielschichtige, zwischen Grellheit und Transzendenz, billigem Leierkasten und sphärischer Klarheit schwebende Auslegung der viel malträtierten Partitur. Das hat Klasse, frivol swingende, trocken federnde Italianità und sehr viel arioses Herzblut, ist dabei eher auf der raschen, als der sentimental verweilenden Klangseite angesiedelt.
Familiensache Zwei: die gut konservierte Kurztheatralisierung „Trauernacht“ aus dem Jahr 2014 von Katie Mitchell, die in der Ausstattung Vicki Mortimers einige einschlägige Kantaten-Arien plus einen Motetten-Choral Johann Sebastian Bachs über das Sterben zu einer Familienaufstellung an einem nüchternen Leichenschmaustisch gebündelt hat. Das Gastspiel im intimeren Théâtre des Celestines geht schnörkellos und routiniert ritualisiert über die minimalistische Bühne. An einem Holztisch versammeln sich zwei Schwestern und zwei Brüder, um nach seiner Beerdigung ihres toten Vaters zu gedenken. Der ist als Geist noch präsent, die einen wenden sich von ihm ab, die anderen verklären ihn oder zeigen echte liebe. Dazu werden Blumen angehäuft, Essen und Trinken konsumiert, mit Erinnerungsgegenständen wie Briefen oder Schuhen gespielt.
Das wird geradlinig gesungen, bis auf den Tenor von ordentlichen Stimmen, hinter einem Gazevorhang klingt nüchtern wie fein Simon-Pierre Bestion mit seinem kleinen Instrumentalensemble (in Aix stand da immerhin Raphaël Pichon). Hier wird direkt mit Gefühlen gespielt, was durch Bachs Emphase, etwa am Ende in – nicht wirklich überraschend – „Ich habe genug“, schnell und sicher gelingt, während Mitchells minimalistisch steifes Setting auf mit Schweigen und verlangsamt eckiger Gestik emotionalem Abstand hält. Reizvoll das als nicht zum ersten Mal theatralisierte Musik, aber als makellos glattes Factory-Produkt dieser Regisseurin auch sehr erwartbar. Familie als Zuflucht, die nicht immer mit offenen Armen empfängt, in der lange Verklärtes kleine Abgründe offenbart. Geschenkt, auch wenn das im Publikum jeder teilen und nachempfinden kann.
Zum feurig-furiosen Finale gerät in Lyon dann freilich das Franz-Schreker-Rarissimum „Irrelohe“ von 1924, märchenhaft volkstümlich mit Spielmännern, einem verfluchten Grafengeschlecht, Geheimnissen, gleichzeitig total dekadent überhitzt und klanglich abgefahren in seiner zuckenden Reizharmonik nie zum tonalen Orgasmus kommt. Und mit dem sinistren Märchenonkel David Bösch wurde auch der genau richtige Regisseur engagiert.
Der erzählt die abstruse Gothic Novel mit Lust am gepflegten Schauern als böse Parabel, die man wohlig als nostalgischen Schocker von einst in atmosphärischen Kulissen operngenießen kann. Denn dysfunktionaler war seltener eine Opernfamilie: Peter ist der uneheliche Sohn von Lola und des Grafen Irrelohe, dessen Geschlecht nach einer unstatthaften Verbindung mit einer Nixe dazu verflucht ist, Frauen zu vergewaltigen. Peter ist verliebt in die Förstertochter Eva, die sich wiederum zum kultivierten, Orchideen züchtenden Grafensohn Herrmann hingezogen fühlt, der den unseligen Bann mit ihr durchbrechen möchte. Vorher aber muss er noch den eifersüchtigen Halbbruder Peter meucheln, während der rachesüchtig zündelnde Spielmann Christobald das Schloss abfackelt.
Büdchen, Bank und Burg zeigt schon überdeutlich der erste Akt, für den neuerlich Falko Herzog mit schwadendurchzogenem, diesmal wie gemaltem Schwarzweiß-Panorama verantwortlich zeichnet (und gleichfalls Michael Bauer für das tolle Licht). Mit seinen kahlen Baumstümpfen, dem Schmodderboden und dem herzigen Spielzeugbergschloss im Hintergrund kopiert das konsequent die alte Universal-Horrorklassiker-Ästhetik, aber upgedatet mit Stapelstuhl und „Irreloher Urquell“-Bierschild an der Trinkhalle. Hier hantiert Lola, die die früh vokalgealterte Lioba Braun mit schreckensweitern Augen herrlich chargiert. Am Schluss gönnt ihr Bösch sogar noch einen stummen Auftritt als Senioren-Lucia-di-Lammermoor mit blutigem Kleid und Brautstrauß.
Mit etwas zu viel Operngestik, kniend, barmend, haltlos verzweifelt müht sich Julian Orlishausen mit immer noch elegant geführtem, hohem Bariton um den Peter, als Figur wie auch in der Vokalbehandlung eigentlich unmöglich. Mit schmutzig wirrem Haar irrt der halbverrückte Spielmann Christobald (Michael Gniffke) durch den kahlen Forst. Darin trollen sich, neben diversen Chargen vom heimatlosen Müller bis zum pinkelnden Pfarrer, auch drei vazierende Musikanten (Peter Kirk, Romanas Kudriasovas, Barnaby Rea), die in den nietenverzierten Kostümen von Moana Stemberger aussehen wie versprengte Mitglieder aus der Aggro-Gang des „Clockwork Orange“-Alex.
Im kafkaesken hohen Dracula-Schloss wartet in einem schrundigen Glashaus mit vertrockneten Gewächsen der albinoweiße Herrmann im lila Samtschlafrock (auch er gepflegt irr: Tobias Hächler mit etwas schneidendem Tenor) samt katzenbuckelndem Kammerdiener Anselmus (Riff-Raff-Klon: Antoine Saint-Espès), dem sich die arg zutrauliche Eva (warmstimmig kraftvoller Sopran: Ambur Braid) im gelben Sommerkleidchen andient. Die hinter den Scheiben gaffenden toten Augen des nur wenig beschäftigten Zombie-Opernchores machen aber schnell klar: Das kann nicht gut enden.
Natürlich kommt im dritten Akt, wenn Hochzeit sein soll, auch wieder die obligatorische David-Bösch-Lichterkette mit Luftschlangen zum Einsatz. Doch die leuchtet nur kurz, bevor Peter tot darniederliegt und gleichzeitig das Schloss brennt. Ein verstörendes Panorama liebevoll ausstaffierten Bühnen-Schreckens, nicht immer wirklich schön, aber sicher gesungen. Und zum großen Showdown stöhnt, ächzt, gellt und ejakuliert noch einmal Schrekers hier kaum mehr gezähmter Sexualnotstand als schillernder Klangschwall.
Den domestiziert der 84-jährige Expressiv-Experte Bernhard Kontarsky nicht immer, lässt sich allzu gern mitreißen von Expressionismus-Ekstase und polyphonem Albtraumwaldweben, durch das filmusikhaft grandios die Tonfeuergarben flackern. Familie tot – Bösch glaubt an kein vergiftetes Happy End, lässt Eva sich die Pulsadern über Peters Leiche aufschneiden –, Schloss in Asche, Oper vorbei. Ja so sind sie, die „secrets de la famille“ Lyoner Art!
Für die nächste Spielzeit hat Richard Brunel übrigens 11 Premieren angekündigt, bedeutsam sind drei schon anderswo gelaufene Koproduktionen von Tobias Kratzer, Friedrich Haas/Claus Guth, und Boesmans/Brunel selbst. Immerhin wird von der Rhone aus eine neue „Nozze di Figaro“ (Alexandre Bloch/Olivier Assayas) an die Bayerische Staatsoper gesendet. Man spielt zudem „Tannhäuser“ (Rustioni, David Hermann), Massenets „Herodiade“ (leider nur konzertant), Bernsteins „Candide“, eine Debussy-Reduktion namens „Mélisande“ und „Katja Kabanova“. Dazu gibt es, nach der virtuellen Stream-Premiere zum Online-Festival 2021, als „Franchir les Portes“ – „Durch die Türen gehen“ endlich Andry Zholdaks „Blaubart“. Das Ballett unter der neuen, nicht choreografierenden Direktorin Julie Guibert lockt mit einer ungewöhnlichen „Dornröschen“-Uraufführung von Marcos Marau. Aber auf die erste ganz echte Richard-Brunel-Saison wird noch bis zur Spielzeit 2023/24 zu warten sein.