Im Frühling 2008 wusste noch keiner der eher gelangweilten Kritiker, die Pina Bauschs, wie immer noch namenloses, später „Sweet Mambo“ geheißenes Stück in Wuppertal zur Kenntnis nahmen, dass dies ihre vorletzte Kreation sein würde. Es folge noch „…wie das Moos auf dem Stein…“, und am 30. Juni 2009 war sie tot.
In diesen Jahren war die große Pina etwas harmloser, weicher und auch vorhersehbarer geworden. Der Geschlechterkampffuror, auch die großen Erzählbögen von früher, waren kleinen Mosaiksteinchen, netten Vignetten gewichen. Die Bausch-DNA hatte sich aufgeweicht. Die Stücke waren bunt, hübsch, bisweilen mit banalen Folklore-Momenten geschmückt von den Städten und Ländern, von denen sie sich auf ihren Gastspielreisen hatte inspirieren lassen.
„Sweet Mambo“ war „Bamboo Blues“ vorausgegangen, für das Peter Papst bereit dieselben weißen, im Windmaschinenluftzug wehenden Vorhänge als Hintergrund entworfen hatte, die sich hier noch einmal mit sich selbst projizierten. Zudem gab es nun in der Mitte stumme Szenen aus dem alten Ufa-Klassiker „Der Blaufuchs“ mit Zarah Leander, Willy Birgel und Paul Hörbiger – mondäne Menschen, die diskutierten, Auto fuhren, das Leben als Menage à trois genossen. Pina Bausch hatte versucht, von derselben Ausgangssituation mit anderen und wenigen Tänzern ein neues Stück zu entwickeln.
Damals war auch die zweite Generation der Bausch-Tänzer am Start, nur neun Protagonisten. „Sweet Mambo“, mit Pause etwas über zwei Stunden lang, ist ein intimes knappes Stück. Und trotzdem hat auch jetzt der zweite Teil wieder Längen, wiederholt sich so Einiges an Situationen und Witzen, ohne das aufregend Neues hinzukäme.
Neu aber ist 2022: Bei Pina Bausch, wo lange schon die Männer immer mal wieder im Kleid auftraten, Lippenstift probierten, aber doch immer Kerle blieben, tanzt inzwischen die erste Transfrau, die Brasilianerin Naomi Brito. Zur Spielzeit 2020/21 noch als Mann eingestellt, hatte sie kürzlich einen großen Erfolg als Zweitbesetzung in der frühen, hier lange nicht gespielten Gluck-Produktion „Orfeo ed Euridice“. Während der Countertenor Valer Sabadus sang, agierte da ein offensichtlich nach wie vor biologischer Mann, der sich jetzt aus Frau begreift in einem Männerpart. So androgyn schillernd war es im Wuppertaler Tanztheater, wo seit Jahrzehnten Geschlechterrollen in Frage gestellt und auf den Kopf gestellt wurden, noch nie.
Und so wohnt dem „Sweet Mambo“-Anfang ebenfalls ein Zauber des Zweimalhinschauens inne. Denn es ist Naomi Brito, genießerisch in Marion Citos gelben Seidenfähnchen auftretend, die als erste erscheint. Und sie ist steht allein für die dritte Generation, die diesmal auch dabei ist, denn ihre Vorgängerin Regina Advento hat als einzige der Ur-Cast inzwischen die Kompanie verlassen. Doch erst erwähnt Brito Adventos Namen – „Redschiiina“ haucht sie zart –, bevor der eigene fällt: Denn hier geht es – „nicht vergessen!“ auch um die Darsteller hinter den Rollen. Ein wenig Memento also, bevor das Stück in gemächlichem, dabei vorwärtsdribbelndem Tempo zu den sanften Musiken von Gustavo Santolalla, Portishead, Jun Myiake und vieler anderer loslegt.
Es ist freilich sehr schnell anrührend zu sehen, wie hier die vor 16 Jahren bereits nicht mehr jungen Originale, jetzt zwischen 54 und 67 Jahre alt, noch einmal den Flow von damals zu beschwören suchen und sich den Beziehungsfrust aus den Gliedern schütteln. Es gelingt, aber der Vergleich mit der Mitzwanzigerin Brito ist hart und überdeutlich. Und so wird „Sweet Mambo“ jetzt zur doppelten Nostalgie. Man sieht das Stück heute noch retrospektiver, dafür weniger streng, gelassener.
Denn man muss sich wohl bald von einer weiteren Truppe Wuppertaler Protagonisten verabschieden, lange werden die das nicht mehr durchstehen. Auch wenn die auf immer grelle Nazareth Panadero in Knallpink, auf extra dünnen Stöckeln watschelnd und bisweilen mit blonder Billigperücke, natürlich ohne Verfallsdatum ihre schrillen Jokes machen könnte, die sie bis heute auskostet. Etwa wenn sie in eine Tüte lacht – „für s-päta!“.
Und da sind sie dann eben wieder, Frauen die sich in die Arme der Männer werfen und klein machen (der ewige Part von Julie Shanahan, aber auch Héléna Pikon), frau macht sich mit Wasser nass, kuschelt in den Vorhängen, verströmt Sinnlichkeit oder Hektik. Julie Anne Stanzak muss sich von den Herren im dunklen Anzug an den Haaren herumzerren lassen, andere tanzen selbstbestimmter ihre schimmernden Soli. Aber sonst sind alle recht manierlich zu einander. Außer beim Sektzuprostenden Gesellschaftstanzfinale Eins (mit dem „Blush“) sind meist nur wenige auf der Bühne, alles ist intimer, kleinteiliger, kurzatmiger, selten überraschend. Natürlich ist es immer noch made in Wuppertal, wir sehen nach wie vor das Original-Tanztheater, aber in seiner altersweichen Form.
Als Blick und Stimme von außen hat es der Choreograf Alan Lucien Øyen, der auch bereits in Wuppertal für das Tanztheater ein Stück entwarf, betreut und hinterfragt. Alles ist jetzt sehr überdeutlich auf seinen Bedeutungsgehalt hin ausgestellt, nicht verschliffen hingewischt – was nur das Alter der Tanzenden noch einmal überbetont.
Und nein, viel besser, schlagkräftiger ist diese Abfolge von liebgewonnen Vignetten, Wuppertaler Manierismen nicht geworden. Aber ehrlicher, eleganter, ihrer Fragilität bewusster. Die man jetzt deutlich rezipiert, als Teil des Kanons, nicht als schwaches Einzeloriginal. Man freut sich an den Gelegenheiten für Aida Vainieri, Andrey Berenzin, Daphnis Kokkinos, Michael Strecker. Und staunt wie lässig sicher sich die Neue, Naomi Brito, zwischen den bekannten Alten bewährt.
Und so gibt es doch immer wieder etwas zu bestaunen, zu belächeln, zu beklatschen. Es war also eine gute Wahl, dass die nun hoffentlich letzte Übergangsdirektorin Bettina Wagner-Bergelt gerade „Sweet Mambo“ als Erinnerung an nunmehr Unwiederbringliches an das Ende ihrer bewahrenden Ära und den Anfang von Boris Charmatz‘ Intendantenzeit gesetzt hat. Und hoffentlich schafft es der Franzose endlich, er hat es ja schon als Motto ausgerufen, das viel zu lange lethargisch in seiner Vergangenheit beharrende Wuppertaler Tanztheater 13 Jahre nach dem Tod der Gründerin wirklich in ein „Wundertal“ auf dem Weg zu kreativen Aufbrüchen zu verwandeln. Auf dass es „nicht vergessen!“ werde.