Auch nach 14 Jahren funktioniert diese bedeutsame Produktion noch: Weinbergs „Die Passagierin“ in David Pountneys Urinszenierung am Teatro Real Madrid

Oben das hellglänzend Gute – unten die Hölle von Auschwitz. Das zweistöckige Bühnenbild, um das auf Schienen Eisenbahnwagen fahren, sagte schon fast alles über die Oper „Die Passagierin“ von Mieczysław Weinberg, die auf den Erlebnissen der polnischen Autorin Zofia Posmysz im Vernichtungslager beruht.

Eine Deutsche begegnet auf einer Schiffsreise einer Polin, die in ihr eine Aufseherin aus Auschwitz wiedererkennt; in Rückblicken bricht die Vergangenheit wieder auf. Dumpf marschieren in dieser Oper die Trommeln, Zwölftoninseln verbreiten Dissonanz, polyglott verschlingen sich Frauenstimmen zum Hoffnungschor, Instrumente duettieren, die Geigen schluchzen scharf und am Ende gibt es ein so verlorenes wie tröstliches Arioso über Schuld und Sühne. Die Passagierin Martha, die als 17-jährige für das Verteilen von Flugblättern nach Auschwitz kam, singt es betörend gefasst an der Rampe, sieht jetzt aus wie die Autorin Zofia Posmysz.

In dieser Partitur ereignet sich alles, was eigentlich bei einem solchen Thema nicht sein darf: die großen Gefühle und die kalte Distanz, die Ambivalenz in Wort und Ton, die nicht verurteilt, nur erzählt. Mit großer dramatischer Wucht erklingt doch ein autonomes Kunstwerk. Eines, von dem die staunende Welt bis zur hervorragenden szenischen Uraufführung 2010 bei den Bregenzer Festspielen nichts wusste. Dabei wurde diese Oper schon 1968 beendet.

„Die Passagierin“ hatte in der Sowjetunion keine Aufführungschance. Weil sie sich nicht eindeutig festlegt, nicht schwarzweiß zeichnet, nicht die nur böse Nazifrau anprangert, deren wohl emotionale Beweggründe für ihre Hilfeleistung an einigen Insassen diffus, aber deshalb auch so lebenswirklich bleiben. In Polen waren aus dem in Rückblenden erzählten Stoff ein Film und ein Fernsehspiel entstanden, sogar in der DDR wurde die Novelle (mit einem einschränkenden Vorwort) übersetzt. Nur in Russland konnte die Oper erst 2006 und da auch nur konzertant vorgestellt werden.

Mieczysław Weinberg (1919-96), ihr Komponist, ist einer der großen Bescheidenen, aber nicht nur deswegen auch großen Ignorierten der Musikgeschichte. Das lässt sich biografisch erklären; auch durch eine ungünstige Verlagssituation, die dazu führte, dass lange nichts für ihn unternommen wurde. Begreifen lässt es sich kaum. Man muss Weinberg nicht gleich als „Russlands dritten Mann“ zwischen Schostakowitsch und Prokofiew ausrufen, aber eine bedeutende Begabung ist er allemal.

Bei der Bregenzer Uraufführungsinszenierung von David Pountney vor 14 Jahren war die sich am Ende mitverbeugende Zofia Posmysz bereits 87 Jahre alt. Allein diese Produktion wurde seither in Warschau, London, Houston, New York, Chicago, Miami und Tel Aviv gezeigt, bevor sie dieser Tage ein letztes Mal in Madrid am Teatro Real unter der Leitung der Weinberg-Streiterin Mirga Gražinytė-Tyla über die Bühne geht.

Posmysz starb erst 2022 in Auschwitz. Nun kam das Werk erstmals ohne deren finale Präsenz auf die Bühne, kürzlich in Mainz (in der Grazer Inszenierung Nadia Loschkys), eben an der Bayerischen Staatsoper. Regie führte dort Tobias Kratzer, der einen etwas abstrakteren Blick auf das Stück versuchte, das ja irgendwie auch Sympathien für die einstige Täterin weckt. Er wollte in den KZ-Szenen „keine aufgeklebten Glatzen und gestreiften Jacken“ zeigen und in keine „Gedenkroutine rutschen“.  Auch haben er und sein Dirigent, Staatsopernmusikchef Vladimir Jurowski den melodramatischen Anteil der Szenen im Lager um etwa 30 Minuten  zusammengestrichen, die einst für die russische Zensur wichtige, aber letztlich nutzlose Figur der Partisanin Katja eliminiert und rücken, wie im Roman von Zofia Posmysz, die Perspektive auf dem Schiff mehr in den Vordergrund.

Sie suchen zudem einen abstrakteren Draufblick durch das Einziehen einer dritten Erzählebene: Sie spielt 2024 auf einem Schiff, wo die alt gewordene Lisa wie die alte Rose in „Titanic“ noch einmal zurückfährt, die Asche ihres Mannes in einer Urne. „Das bringt eine gewisse Gegenwärtigkeit in die Geschichte“, meinte Kratzer: „die Frage, wie man auch viele Jahrzehnte danach mit Schuld umgeht.“

In München war das so spannend, erhellend auch, und kontrovers. Immer wieder war man versucht, darüber zu grübeln, ob der Lisa damit nicht zu viel Raum gegeben wird. Anderseits ist nie klar, ob es wirklich Martha auf dem Schiff ist. David Poutney, obwohl er Martha zunächst innerhalb der weißgekleideten Passagiere mit einem Schleier verhüllt zeigt, scheint dies zu meinen. Deshalb stellt er ihre Geschichte und die ihrer polnischen, griechischen, tschechischen, aber nie jüdischen Mitopfer in den Mittelpunkt, besonders im zweiten Akt.

Beim Wiedersehen in Madrid packt diese Produktion immer noch, es stellt sich freilich auch ein gewisses Déjà Vu ein: Man kennt diese Bilder und Geschichten, den Terror, die Willkür, Hunger Schmutz, Kälte und ein wenig Gefangenensolidarität aus sehr vielen ähnlichen Handlungsvorwürfen. Und doch zieht einen immer wieder Weinbergs Musik ins Geschehen, gerade im Kontrast seines virtuos eklektischen Tonfalls zwischen Perkussionsgrollen und Jazztanzmusik, harten Streicherattacken, verfremdeten Walzern und Bach-Partita.

Den trifft Mirga Gražinytė-Tyla so präzise wie schmiegsam, bei ihr klingt es etwas weicher, elegischer als München. Hingebungsvoll folgen ihr das Qrquesta Titular del Teatro Real und dessen Chor. Abwechslungsreich besetzt sind all die kleinen, wichtigen, als Mosaiksteinchen einander zum großen Stimmungstableau ergänzenden Partien; und selbst die Katja (Anna Gorbachyova-Ogilvie) bekommt hier Plastizität.

Fein abgestimmt auch das Solistenquartett: Daveda Karans ist eine vierschrötig geradlinige Lisa, die durch die plötzlichen Erinnerungsschübe aus dem Tritt ihrer verdrängenden Existenz gebracht wird. Zu Martha (die sehnige, auch kratzbürstige, nie aufgebende Amanda Majeski) hatte sie eine besondere Beziehung. Was sie aber nicht davon abhielt, zuzusehen, wie deren aufmüpfiger Verlobter Tadeusz (anrührend rebellisch: Gyula Orendt) schließlich verprügelt und zum Töten weggebracht wurde. Selbstmitleidig jammert sie von ihrer „Pflicht“, die sie erfüllt habe, während sich ihr Mann (tenordurchdringend: Nikolai Schukoff) angewidert abwendet.

Das Grauen von Gestern, das heute immer noch präsent sein muss, es wird ebenfalls in dieser Ur-„Passagierin“ nicht minimalisiert und ästhetisch abstrakt verarbeitet. Es triff neuerlich tief. Sehr.

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