In den letzten Bühnenjahren wollte man Alban Bergs Büchner-Oper „Wozzeck“, die besser ist als die Stückvorlage (was sie wiederum mit Debussys „Pelléas et Mélisande“ nach Maeterlinck gemein hat) gern in der Gegenwart sehen. In München stellte ihn Andreas Kriegenburg zeitlos auf Stelzen auf einer Wasserfläche, im Theater an der Wien zeigte ihn Richard Carsen im camouflierenden Military-Lock, an der Wiener Staatsoper Simon Stone zwischen U-Bahnhof Ottakring und Lobau. An der Deutschen Oper Berlin arbeitete er in einer Werkskantine, in Düsseldorf bei Stefan Herheim war es die Reminiszenz eine Todgespritzten im amerikanischen Vollzugssystem. Surrealer war Krzysztof Warlikowski in Amsterdam, William Kentridge hat ihn in Salzburg freilich in die Entstehungszeit gerückt und als traumatische Weltkriegsreminiszenz des Komponisten ausgelegt.
Aber jeder „Wozzeck“ funktioniert – irgendwie. Das streng in drei Akte zu je fünf Szenen eingeteilte Musiktheater mit seinem klaren Klangbauplan zwischen Realismus und Abstraktion 12-Ton-Hörigkeit und frei dramatischem Tonfall, es geht unkaputtbar immer.
Natürlich auch an der selbst in der letzten Vorstellung vollen, mit einem aufmerksam dem klaren Deutsch vor allem Stéphane Degouts wie dem tenorschneidenden Hauptmann Thomas Ebensteins lauschenden Publikum in der Opéra de Lyon, wo der Intendant Richard Brunel inszeniert hat. Dort dirigiert der langjährige Musikchef Daniele Rustioni mit seinem traumschön folgenden Orchester Bergs Meisterwerk von 1925 in seiner 99-jährigen, immer noch packenden Aktualität als eine Mischung aus italienischem Verismo und Wiener Heurigenseligkeit. Was dieser Parabel, nicht mehr um einen Proletarier, aber um das Ausgeliefertsein des Menschen schlechthin, zwischen konkretem Lokalverweis und atonaler Abstraktion sehr gut ansteht.
Das Einzige, was hier auf der versatil-grauen mit Leuchtstreifen am Boden und an der Decke auch mal verzaubernden Bühne eines nüchternen Versuchslabors von Etienne Pluss fehlt, das ist die vom die Vorlage liefernden Georg Büchner wie von Bergs so plastisch-dämonisch beschworene Natur: die als blutroter Mond beim Stöckeschneiden mit Andres (Robert Lewis) oder als sumpfige Teichlandschaft beim Mord an Marie wie dem einsamen Sterben des Soldaten Wozzeck dessen heillose Lage noch weiter verdichtet. Die muss hier die exakte wie klangfarbenpralle Exegese der vielseitigen Partitur ersetzten – was Rustioni spielend gelingt.
Wozzeck, das ist – und Stéphane Degout spieltsingt das so zurückhaltend wie überschwänglich, mit charaktervollem Bariton – ein abgerissener Kerl von heute mit Plastiktüte und T-Shirt. Der braucht das Geld für diesen Menschenversuch so dringend, dass er sich selbst beim Casting noch vordrängelt und den der böse bassgemütsvolle Doktor (Thomas Faulkner) wie der hysterische Hauptmann als Vertreter einer höheren Macht ins Verderben führen. Die wiederum – kleine Pointe – hier von den beiden Handwerksburschen Hugo Santos Alexandre de Jong in Gestalt eines Priesters wie eines Ministers überwacht werden, erkennbar durch einen wie von Geisterhand geführten Scheinwerferroboterarm an der Decke. Der folgt dem Geschehen, ferngesteuert von wem auch immer, erbarmungslos und leuchtet es grell aus.
Wozzeck kann oder mag nicht sehen, wie um ihn herum alles wie in einer sinistren Truman Show nur fake reality ist. Seine Marie (die sinnlich grandios bis ins Grelle sich steigernde Ambur Braid im Minirock) wird in ihrer Plattenbau-Fickzelle hereingefahren, das Kind (Ivan Declinand) klebt emotionslos am Flachbildschirm, aus dem am Ende auch der Kinderchor tönt. Der singt jetzt nicht mehr „Hopp-Hopp“, sondern „Hip-Hop“, und der Junge serviert seinen beiden tot am Tisch sitzenden Eltern ungerührt das Abendessen, als seien sie die Dummies im neuesten Netflix-Stream.
Der Tod der Marie, von der man nicht weiß, was sie weiß, wirkt wie ein einkalkulierter Kollateralschaden. Überrascht sind die überwachenden Big Brothers dann aber doch, dass sich Wozzeck ersticht, als sie die Überwachungstür zu seinem schäbigen Kabuff öffnen. Und selbst der Tambourmajor, der hier gar kein sexy Militär ist, der Marie wie Margaret (Jenny Anne Flory) wohl kaum mit den Augen verführt, scheint hier nur ein speckiger Elektriker (Robert Watson), der die Überwachungskamera repariert.
Das ist so schlüssig wie folgerichtig erzählt, nüchtern, aber dicht und weitet sich immer nur kurz zum Massenspektakel, wenn von hinten das ebenfalls nicht sehen wollende, willfährige Volk in tristen Betriebsuniformen samt kratzigen Bühnenmusikanten für die Wirtshausszene oder die fein umgewandelte Schlafschnarchszene in der Kaserne in dieser hoffnungslose Versuchssituation einbricht. Die nach wie vor wirkungsvoll in Bergs schillernd-vielgestaltige, immer schlüssige Musik eingepackt ist. Welche an diesem tollen, von Richard Brunel so zynisch wie richtig inszenierten Opernabend wieder einmal ganz wunderbar solitärleuchtet.