Auf immerhin drei Auftritte bringt es der griechische Halbgott Herakles im üppigen Opern- wie Oratorienschaffen Georg Friedrich Händels: Im 1727 uraufgeführten „Admeto“, darf er als basssingender, rustikal-komischer, ziemlich einfach muskelgestrickter Deus ex Machina im zweiten Akt die Königin Alceste in der Unterwelt gegen den Höllenhund Cerberus verteidigen und wieder ans Sonnenlicht geleiten. 1750 taucht er in dem aus der nicht aufgeführten Schauspielmusik zu einer (wiederum) „Alceste“ sich speisenden, etwa 40 Minuten langen Musical Interlude „The Choice of Hercules“ neuerlich auf; als „Herkules am Scheideweg“ oder „Laßt uns sorgen, laßt uns wachen“ hat den Stoff ebenfalls Bach als weltliche Kantate gestaltet.
Und fünf Jahre vorher, 1745, hat Händel dem Helden sogar ein abendfüllendes Oratorium gewidmet, einfach „Hercules“ geheißen, und damals ein ziemlicher Misserfolg. Weil weltlichen Inhalts und mit einer eher knappen Chorpartie versehen, zählt es – wie die „Semele“ – zu den Musical Dramas, die sich durchaus auch für die Opernbühne eigenen. Nach einer spektakulären, seit 2004 von Aix aus auch international tourende und aufgezeichneten Produktion von Lux Bondy und William Christie mit Joyce DiDonato, William Shimell und Toby Spence, gab es das eher selten zu sehende, aber musikalisch so packende wie stringente Werk jetzt als Premiere wie Eröffnung der 44. Internationalen Händel-Festspiele am Staatstheater Karlsruhe.
Wie stets feiert man hier seit den späten Siebzigerjahren, immer um den Händel-Geburtstag am 23. Januar herum, zehn Tage lang das vielbeachtete Barockfestival, zu dem in der ganzen Stadt goldene Komponistenbüsten aufgestellt werden. Nach dem man letztes Jahr coronabedingt pausieren musste, steht der Tonsetzer-Hommage, wie schon 1997-99 als Interims-Intendant Ulrich Peters vor; keiner redet hier mehr vom geschassten Ex-Intendanten Peter Spuhler wie vom später dann auch in Zürich verhaltensauffällig gewordenen und entsorgten, hier gleichfalls nun entfernten Festspielchef Michael Fichtenholz. Der Russe freilich, der in Moskaus freier Szene weiterhin fleißig barockbesetzt, soll jetzt neuerlich bei Counter-Crösus Max Emanuel Cencic einsteigen, der ja auch schon in Karlsruhe als Sänger wie Regisseur dabei war.
Nach dem eher flügelahmen, nur durch die Teilnahme von Jakub Jozef Orlinski geadelten „Tolemeo“ von 2020 (der dieses Jahr noch einmal gespielt wird, mit dem etwas schrillen persisch-amerikanischen Counter Cameron Shahbazi) ist der „Hercules“ freilich noch vom Hof gejagten Händel-Team geplant worden. Und das gut. Denn erstmals steht (und sitzt am Cembalo) der dänische Darmsaiten-Könner Lars Ulrik Mortensen vor den hörbar motivierte Deutschen Händel-Solisten. Das hat bereits in der fluffigen Ouvertüre einen hellen, straffen, rhythmisch glucksigen Händel-Sound, der treibt und fesselt. Obwohl das mythologische Geschehen eher traurig ist.
Schon das szenische Vorspiel zeigt, wofür der in Karlsruhe ebenfalls nicht unbekannte holländische Regisseur Floris Visser steht: einen schnörkellos realistischen, psychologisch auf den Punkt gebrachten Regiestil. Der passt hier besonders gut, denn Händel und sein Librettist Thomas Broughton erzählen das düstere, finale Herakles-Kapitel. Der kehrt wieder mal aus einem Krieg zurück, anders als Penelope wartet seine Gattin Dejanira aber nicht ergebungsvoll auf die Rückkehr ihres Odysseus, sondern rast vor Eifersucht. Vor allem weil Herakles schon mal vorab die gefangene Königstochter Iole schickt, in der Dejanira eine Nebenbuhlerin vermutet.
Als letztes Heilmittel fällt ihr ein Liebeszauber ein, den ihr der von Herakles zur Strecke gebrachte Zentaur Nessus anempfolen hatte: sein aufgefangenes Blut, geträufelt auf ein Kleidungsstück, macht jeden müden Mann wieder libidomunter. Leider eine Lüge aus Rache: Herakles sitzt wahrlich in seinem Mantel in den Nesseln, reißt sich das ätzende Ding samt Haut vom Leib und stirbt unter Qualen, von seinem Vater Zeus als Adler in den Olymp geholt. Dejanira wird darüber wahnsinnig. Die Herrschaft übernehmen ab jetzt ihr Sohn Hyllus mit der von ihm angebeteten Iole.
Gestützt auf Ovid, Sophokles und Seneca, inszeniert Visser das reiche Werk mit knappen Arien, affektsatten Rezitativen und schlicht-schönen Chören klar, scharf und subtil wie im Schauspiel – und sehr heutig. Oder besser sehr Fifties. Denn schick sind Gideon Daveys pastellige Petticoatchifonroben, die sich wirkungsvoll vor dem Einheitsweiß seines zweistöckigen, nüchternes Herrscherpalasts abheben: Esszimmer, Fernsehraum mit Treppe zum Schlafzimmer und hoher Versammlungssaal, dessen Galerie ein effektsicher beleuchtetes Tempelfries schmückt.
Ein wenig amerikanisch sieht das aus, Washingtons Neoklassizismus liefert die Vorbilder. Auf der Drehbühne ermöglicht solches einen geschickt getimten Bewegungs- und Erzählfluss. Zudem drehen sich auf einem gegenläufigen Ring eingefrorene Szenen, welche Dingen zeigen, von denen nur berichtet wird; fast ein wenig zeigefingernd überflüssig ist das. Auch die Mauerschau, in der die Vertraute Lichias (hier Herakles-Adjutant James Hall mit ebenmäßigem Countertenor) anfangs des dritten Aktes vom Tod ihres Herren berichtet, hätte man nicht unbedingt als Wochenschaufilm sehen müssen.
Freilich ist das Teil eines Gerichtsprozesses, bei dem über die Einlieferung der umnachteten Dejanira in eine geschlossene Anstalt entschieden wird. Schon die Ouvertüre, die sie hinter vernagelten Türen in der Zwangsjacke rasend zeigt, macht klar, das Folgende sind Erinnerungsfetzen ihres umnachteten Gemüts. Die Tat ist leider längst getan. So wird auch das zeitliche Hin und Her im Finale klar, wie auch die in Giftgrün getauchte Eifersuchtsbeschwörung des Chors am Ende des ersten Teils: Hirngespinste einer von ihren Emotionen Fehlgeleiteten, die schon Herakles und Iole als Paar mit Kind tagträumt und dafür bitter büßen muss.
Eine tolle Albtraumrolle für die wunderfein bühnenfüllende Ann Hallenberg, die eine Art Pat Nixon gibt, der die Sicherungen durchbrennen. Würdevoll versucht sie in ihrer steifen weißen Robe samt Betonfrisur die First-Lady-Contenance zu wahren, und doch schmeißt sie irgendwann rasend die Blumenvase an die Wand. Großartig gestaltet dieses disparate Persönlichkeitsspektrum einer der interessantesten Händel-Frauenfiguren die virtuose, hier vor allem gefühlvoll geforderte schwedische Sopranistin auch vokal: vom sehrenden Bangen der ihren Mann Entbehrenden, bis zur von Händel grandios durchstrukturierten Scena di Follia, die zur angstmachenden, bisweilen den schönen Ton sogar negierenden Wahnsinnsszene als großes Accompagnato-Rezitativ sich steigert.
Herakles, den Dejanira immer wieder halbnackt mit braunen Adlerflügeln vor sich sieht, bisweilen sogar mit der bräutlichen Iole (petite, adrett, doch mit durchaus nicht nur liebreizendem Sopran: Lauren Lodge-Campbell) auf dem Schoß, das ist der solide, eher weichstimmige Bass Brandon Cedel. Der spielt hier – stückbedingt und ohne jede Heldentat – nur die zweite Geige.
Mit kräftigem Tenor versucht Moritz Kallenberg sich als zwischen Sympathie für die Mama und Ehrfurcht für den Vater pendelnder Sohn Hyllus zu positionieren. Im echten Theaterleben weißt die verzweifelte Iole die noch mit Urne wie Asche ihres Vaters zu kämpfen hat, ihn ab, das scheinbare Happy End als neues Herrscherpaar ist wieder nur eine Opernvision Dejaniras. In der Bühnenwirklichkeit sitzen am Ende deshalb zwei von der Wucht der fatalen Ereignisse erloschene Menschen verzweifelt in der Kälte ihrer führungslos gewordenen Residenz. Nur für die verrückte Dejanira im ersten Stock nimmt ihr Gatte im nun leuchtenden Sternenhimmel an der Wand seinen vorbestimmten Platz ein.
Floris Visser und Lars Ulrik Mortensen erzählen das visuell wie akustisch enggeführt mit souveräner Raffinesse und Wucht. In vier Stunden sinistrer Liebesraserei in einer Nachkriegszeit gibt es keine langweilige Minute. So setzt dieser Karlsruher „Hercules“ schon mal als Zeichen sich wiederbelebten Kulturvielfalt einen ersten, sehr starken Händel-Festivalpunkt 2022. Die beiden anderen ihm gewidmeten deutschen Festspiele in Halle (feiert dieses Jahr 100. Jubiläum) und Göttingen werden sich anstrengen müssen, dem szenisch Adäquates entgegenzustellen.