Eine leider zu spät gekommene Ritter-Grand-Opéra: Hervé Niquet gräbt in Saint-Étienne den seit 122 Jahren nicht mehr gespielten „Lancelot“ von Victorin Joncières aus

Fotos: Cyrille Cauvet

Es ist doch immer wieder spannend, was da an französischem Opernschaffen des 19. Jahrhunderts ans Licht kommt. An der Opéra de Saint-Étienne, in einem Betonbrutalismus-Kulturhaus über den Hügeln der einstigen Bergbaustadt thronend und eigentlich sonst nur für ihre ab und an gezeigten selteneren Werke des hier geborenen Jules Massenet bekannt, hat man „Lancelot“, die letzte Oper von Victorin de Joncières ausgegraben.

Das, wie unschwer schon am Titel zu erkennen ist, unter den Rittern der Tafelrunde König Arthus spielende Opus wurde seit der Uraufführung 1900 an der Opéra de Paris nicht mehr gespielt. Und ist jetzt, als knapper, inklusive Ballett und Pause nur zweieinhalb Stunden dauernder Vierakter von dem dirigierenden Trüffelsucher Hervé Niquet und seiner wissenschaftlichen Begleitmannschaft der venezianisch-französischen Stiftung Palazzetto Bru Zane wiederbelebt worden.

Wer war der hierzulande völlig unbekannte Joncières? Mit wirklichem Namen hieß er Félix-Ludger Rossignol, wurde 1839 in Paris geboren und starb auch dort. Er studierte am Pariser Konservatorium, verließ aber das Institut infolge eines Streits über Richard Wagner, zu dessen Verehrern er gehörte und zu dessen Aufführungen er immer wieder reiste, um darüber zu schreiben. Als langjähriger Kritiker der Zeitung „La Liberté“ unterstützte er auch César Franck und seinen Jugendfreund Emmanuel Chabrier.

Joncières eigenen Opern fehlte nach zeitgenössischen Urteilen die Reinheit des Stils. Immer wieder hat er sich, neben einigen Orchesterwerken,  Literaturvertonungen historischen Romane oder Dramen zugewandt: „Sardanapal“ (1867) nach Lord Byron, „Les Derniers Jours de Pompéi“ (1869) nach Edward Bulwer-Lytton, „Dimitri“ (1876) nach Schillers „Demetrius“ (den Niquet 2014 ebenfalls für Bru Zane bereits eingespielt hat), „La Reine Berthe“ (1878), „Le Chevalier Jean“ (1895) und eben „Lancelot du Lac“ – mit einem Buch von den versierten Librettisten Louis Gallet und Édouard Blau.

Wurde dieser „Lancelot“ nicht mehr gespielt, weil er im Schatten des drei Jahre später in Brüssel uraufgeführten „Roi Arthus“ von Ernest Chausson stand? Das dürfte kaum der Grund gewesen sein, zumal auch dieses Werk erst in den letzten Jahren eine vorsichtige Renaissance erlebte. Das eine mag in seinem Symbolismus moderner sein, der „Lancelot“ hält sich hingegen mit seinen schmeichelnden Melodien an die überkommenen Formeln von Meyerbeers Grand-Opéra-Model; auch wenn er dieses verdichtet, in der zweiten, fast ohne Chor auskommenden Hälfte intimer macht, ganz auf die Verwicklungen und Gefühle seiner Protagonisten konzentriert. Aber trotzdem: Das galt auch 1900 bereits als veraltet, obwohl es musikalisch nicht hinter anderen Wagner-Adepten wie Vincent d’Indys „Le Roi d’Ys“ (1888) oder Albéric Magnards „Guercoeur“(1901)  steht.

Dieser dramaturgisch straff und direkt konzipierte „Lancelot“ versucht sich nicht wirklich an einer mittelalterlichen Atmosphäre, die geläufigen Arien und abwechslungsreich dichten Ensembles könnten auch von Zeitgenossen gesungen werden, die prickelnd-mitreißenden Chorszenen haben Temperament, Fülle und Brillanz. Es gibt feierliche Fanfaren, ein rhythmisch abwechslungsreiches Ballett, Bühnenmusik mit Orgel, schmeichelnde Streicher.

In Saint-Étienne wird solches höchst effizient auf die Bühne gebracht. Der clevere Regisseur Jean-Romain Vesperini hat „Lancelot“ naheliegenderweise in einen Einheitsraum von Bruno de Lavenère angesiedelt, der mit einem Edward-Burne-Jones Wandteppich geschmückt ist. Schließlich haben sich die viktorianischen Präraffaeliten sehr gern in imaginären Mittelalterwelten aufgehalten. In der Mitte steht, ebenfalls nicht überraschend, ein runder Tisch mit einem Muster aus Schachbrett und Roulette, obwohl die Tafelrunde hier nie komplett auftaucht. Der Tisch ist Podium und Drehbühne, er kann aber auch schräg hochgeklappt rotieren, so wird er schnell zum Gefängnis wie zum Krankenlager.

Kerzenständer, halbtransparent schwarze Vorhänge, spiegelnde Wandhänger und eine geschickte Beleuchtung erweisen dieses Ambiente als so wandelbar wie stimmungsvoll zwischen Königspalast, labyrinthischem Kloster und See, wo die fünf, von Maxime Thomas geführten Tänzerinnen im zum zwei Dritteln gespielten Ballett den Ritter verführen und verwirren; ebenso die silhouettenstarken, dabei einfach geschnittenen Kostüme Versperinis, die zwischen Altertum und Entstehungszeit changieren.

Der tapfere Tenor Thomas Bettinger ist mit gleißender Höhe und feinen Stimmungsschattierungen der dummerweise in Guinèvere, die Gattin seines besten Freundes Arthus verschossene Ritter Lancelot. Das kann nicht gut opernenden. Denn die nach der Entdeckung dieser Liaison ins Kloster geschickte Königin – Anaïk Morel singt sie mit warmen, doch auch auftrumpfendem Mezzo ­– kann sich der Staatsräson wie den Gefühlen für ihren Mann nicht gänzlich entziehen. Der Bariton Tomasz Kumiega als König am Rande des Nervenzusammenbruchs, gellt manchmal zu stark. Sehr schön tönen hingegen Philippe Estèphe (der intrigante Markhoël mit roten Handschuhen), der sich um seinen Sitz in der Tafelrunde gebracht sieht und der würdevolle Frédéric Caton (Graf Alain de Dinan). Die zweite Frau im Männerbunde, ist dessen Tochter, die unschuldsvoll-rachesüchtige Elaine (reifer Sopran: Olivia Doray). Sie muss erkennen, dass der von ihr gesundgepflegte Lancelot nicht sie erhört, sondern eine andere liebt. Sie begeht Selbstmord.

„Was bleibt mir? “, stöhnt am Ende ein verzweifelter Lancelot. „Gott“, antwortet pragmatisch Guinèvre an diesem schlicht effektiven Ende, das einen großen Sagenstoff auf einen Liebeskonflikt im üblichen Musiktheaterdreieck eindampft. Dem man trotzdem überraschend gern zugehört hat. Es bleibt zu hoffen, dass der das Orchestre Symphonique Saint-Étienne Loire mit Schwung und lieblichem Feuer souverän dirigierende Hervé Niquet sowie seine Palazzetto-Bru-Zane-Mitverschworenen auch dieses hörenswerte Beispiel einer zu spät gekommenen Ritter-Grand-Opéra für CD-würdig halten.

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