Bürgerlich und hochkultiviert: Andris Nelsons, Krystian Zimmerman und das Gewandhausorchester starten mit Beethoven in die 240. Konzertsaison

Was für ein unmittelbarer Kontrast, zu der steif auftrumpfenden Selbstfeier der Berliner Staatskapelle zum 450. Geburtstag im fast leeren, klirrkalt tönenden Opernsaal Unter den Linden. Das Leipziger Gewandhausorchester hat als ältester bürgerlicher Klangkörper weltweit (und mit weit mehr bedeutenden Uraufführungen) nach sechs Monaten Corona-Schweigen seine 240. Saison eingeläutet. Mit – nicht eben originell, aber programmatisch sehr nachvollziehbar – dreimal dem dicken B des Jahres 2020, Beethoven satt, im Dreiklang von Ouvertüre, Konzert, Sinfonie. Und natürlich stand Andris Nelsons als amtierender 21. Gewandhauskapellmeister am Pult, bestens erholt nach einem ruhigen Sommer in Riga.

Höchst sympathisch schlicht und persönlich begrüßen Intendant Andreas Schulz und Orchestervorstand Matthias Schreiber ihr Publikum. Erst eine halbe Stunde vor Beginn durfte es in das Gebäude, aber dort geht es – anders als in der Berliner Philharmonie – gänzlich unhysterisch zu. Es gibt Papiertickets, Programme, Pausenbüffets, Markierungen am Boden – und vor allem 960 Leute im Saal, das ist die Hälfte. Und so angenehm sieht es auch aus. „Sie wollen das Orchester auf der Bühne erleben – und wir wollen Sie im Saal sehen“, ähnlich einleuchtend endete die Ansprache. Da freut man sich doch schon wieder – gemäß dem Leitmotto unter der Orgel –  auf „Res severa“ (ernste Sache) und „Verum Gaudium“ (wahre Freude).

So geht es also in die so kurios nicht beginnen und nicht enden wollende Beethoven-Ouvertüre von der „Weihe des Hauses“ über. Die hier seit 1934 in keinem Konzert mehr erklungen ist! Aber jetzt aus doppeltem Grund am Beginn steht. Nach sechs Monaten Zwangspause meldet sich ein so weltberühmtes wie wunderfeines Orchester klangsatt, live und ordentlich bestückt aus dem Lockdown zurück. Und außerdem gilt es, die „Weihe“ des neuen, auch akustisch ertüchtigten Hubpodiums zu feiern. Das leuchtet hell, und so tönt  auch dieses Auftaktstück als Einspielnummer. Wir sind wieder da, haben nichts von unserem Zusammenspiel verloren, nichts von der lässigen Weichheit, der Fülle, der Transparenz, dem dunkel-schönen Klang. Andris Nelsons und die Leipziger, das scheint sehr schnell zu einer Einheit verwachsen.

Nelsons ist 42 Jahre alt. Zu ihm gesellt sich nun, natürlich am eigenen, aus Basel im Minibus mitgebrachten Flügel, Krystian Zimerman, das Enigma, der Schwierige, selten zu Fassende, inzwischen 63 Jahre alt, im 3. Beethoven-Klavierkonzert. Zwei Musikergenerationen also, die sich im ruhigen, aufeinander hörendenden Spiel, in einer unaufgeregten, doch sensibel lotenden Interpretation wiederfinden. Das lastende c-moll-Werk wird behend und akkurat angegangen. Zimerman, sehr wach, doch fest im Anschlag, folgt dem vollkommen, spielt kraftvoll in der Solokadenz, mit treffsicherem, nie pedantischem Skalenwerk. Es ist wirklich ein Konzertieren, Orchester, Dirigent und Solisten passen in Ansatz und Ästhetik als facettenreicher Dialog sehr harmonisch zusammen.  

Nie verzärtelt sich Zimerman im zweiten Satz, den er liebevoll, doch drängend, dann wieder mit feinen Temporückungen angeht. Feinsilbrig klingt sein Diskant, in völliger Einheit  mischen er und das Orchester sich. So geht es auch ins bewegte Finale, Zimerman hört aufmerksam zu, ein witziges Pingpong als Klangunterhaltung. Leider keine Zugabe, trotz intensiv langem Applaus bei geschlossenen Backstagetüren. So ist er halt.

Dann die 5. Sinfonie, wieder c-moll, diesmal schnell, schlank, wendig. Und jetzt wird ein gutes Konzert richtig groß. Denn anders als bei seiner eher mittelmäßigen aktuellen Einspielung mit den Wiener Philharmonikern haben Andris Nelsons und sein Gewandhausorchester einen Plan und eine Klanglinie. Der Dirigent grätscht sich förmlich ins Haupthema attackiert es, aber mit Partitur und langem Stab, florettgleich. Das bleibt immer beweglich, hurtig, flexibel. Nur 58 Musiker spielen in Zehner-Streicherbesetzung, mit eigenen Pulten, trotzdem scheinbar kompakt über das neue, offenbar wirklich weicher, wärmer tönende Podium verteilt.   

Andris Nelsons ist trotz seines jugendlichen Alters ein Middle-of-The Road-Dirigent, kein Mann der Extreme und Ekstase. Es darf sich schon mal entladen, aber es soll schön klingen. Das tut es. Und doch seziert er ganz unaufdringlich Bau und Struktur der oft gehörten Sinfonie. Er übereilt nichts, noch forciert er. Überlegen schreitet das voran. Immer wieder fächern sich die Holzbläser aus der Mitte traumschön auf, das Scherzo ist ein Mirakel der Dramaturgie, besonders in der lange Diminuendo-Stelle. Das singt, schwingt und swingt, es muss nichts beweisen, aber er hat hier etwas zu sagen.

Diese Fünfte ist nicht neu und nicht revolutionär, aber sehr klug und aufmerksam, mit schönen Details und sehr, sehr viel angenehm routinefreier Spielfreude dargebracht. Klug dosiert erweisen sich die Spannungsbogen, virtuose und doch human gelingt die Verbindung von Dramatik und Sanglichkeit. Großer, befreiter Jubel über endlich wieder echte Klänge im Saal.

Im November hofft man mit einem apart gemischten Drei-Abende-Beethoven-Programm aus 3., 5. und 6. Sinfonie sowie Violinkonzert und Romanzen (mit La Mutter), 5. Klavierkonzert (Daniil Trifonov) und dem Tripelkonzert (Daniel Müller-Schott kommt dazu) auf Tournee nach Hamburg, Paris, Frankfurt und Wien zu gehen. Erst aber einmal kommt nächste Woche der gute, alte, liebe Herbert Blomstedt (Kapellmeister Nr. 19) an seine frühere Wirkungsstätte, um den 100. Geburtstag seines Vorgänger Vaclav Neumann (Nr. 17) klangzufeiern. Und dirigiert ihm zu Ehren erstmals die Sinfonie Op. 23 des tschechischen Beethoven-Zeitgenossen Vaclav Vorisek. Glückliche Musikstadt Leipzig.

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Ein Kommentar bei „Bürgerlich und hochkultiviert: Andris Nelsons, Krystian Zimmerman und das Gewandhausorchester starten mit Beethoven in die 240. Konzertsaison“

  1. Hallo, Ihr Kommentar ( den ich bereits heute Morgen in Twitter las) zu dem gestern Abend stattgefundenen Konzert hat mir sehr gefallen. Ich fand es auch sehr schade, dass es von KryZ keine Zugabe mehr gab, dachte aber dann: vielleicht ist es seiner langwierigen Krankheit geschuldet, die er letztes Jahr durchgemacht hat… wer weiß?

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