Béla Bartóks seit 1911 in seiner Lakonie wie Drastik des Musiktheaters immer noch einzigartig dastehender Einakter „Herzog Blaubarts Burg“ hat erstmals 1988 in Amsterdam Herbert Wernicke gleich zweimal hintereinander inszeniert. Nun folgte ihm der hochgehandelte, 2019 mit dem Oper!-Award als Bester Regisseur ausgezeichnete Ukrainer Andriy Zholdak. Er beschloss damit das alljährliche, dieses Jahr nur online stattfinden Frühlingsfestival der Opéra de Lyon.
„Starke Frauen?“, so fragezeichnet Intendant Serge Dorny in seiner letzten Saison vor seinem München-Start in Corona-Zeiten und bündelte seinen Spielzeitschwerpunkt wie immer um drei Novitäten. 2021 stand der Blaubart-Stoff im Mittelpunkt, abgehandelt bei Paul Dukas und eben Bartók (die Offenbach-Variante war zudem kürzlich in Lyon zu sehen), weitergesponnen um eine neue Musiktheater-Version mit der meist passiven Mélisande; auch die ein Geschöpft des Dukas-Librettisten Maurice Maeterlinck. Insgesamt 13 Stream-Veranstaltungen hatte man in Lyon zu dem Thema gebündelt, neben den drei Opern noch Colloquien, Referate, Essays.
Schon am Beginn der Pandemie-Schließungen vor einem Jahr hatte es zweimal eindrucksvoll den Bartók-„Blaubart“ gegeben, freilich separat: als Wiederaufnahme des legendären Pina-Bausch-Tanztheaters in Wuppertal und als typisches Katie-Mitchell-Videoevent an der Bayerischen Staatsoper. In Lyon beginnt nun auch Andriy Zholdak seinen Doppel Whopper verheißungsvoll. Blaubart (gleißend, verschlagen und leise verrückt: Karoly Szemeredy) spricht den Prolog und tritt durch einen Spiegel mit der neuen Frau in seine Welt. Die ist ein schmaler, einst grüngestrichener Korridor, mit sechs Türen und einem nochmaligen Spiegel an der Rückwand. Ein kunstvoll heruntergekommenes Ambiente, bei dem wir bald auf der Drehbühne von Daniel Zholdak auch hinter die Türen blicken. Die Regie geht zwar frei mit den Räumen um, folgt aber einigermaßen der Storyline, so wie Judith, die frische Gattin (ebenfalls neurotisch verstörend und übersexualisiert: Eve-Maud Hubeaux), nach und nach hinter Portale und in Abgründe im dinglichen wie geistigen Universum ihres Mannes blickt.
Der erweist sich mehr und mehr als Frauenquäler, Lustmolch, Fetischist, monströs, ekelig, aber auch bedauernswert getrieben. Andriy Zholdak, hält das gruselige Geschehen (es gibt zudem einen Live-Kameramann, die Projektionsfläche ist oben) genial in der Schwebe. Ihm gelingt ein mysteriöses Thrillerstimmungsmix aus Hitchcock, Polanski und Lynch in einem fies siffigen Ambiente zwischen blutigen Kücheneinrichtungsteilen, verdreckten Wannen, grauslichen Schlafstätten. Das könnte auch Fritzls Keller und Hannibal Lecters Metzelstube sein.
Da fasst sich Blaubarts Mutter in den Schritt, seine ältliche Schwester folgt ihm hinkend, nur drei seiner Frauen lassen sich so angeekelt wie fixiert von ihm jagen. Ein mittelaltes Schwulenpärchen treibt es bunt, ein aufgeregter Diener tänzelt im Fummel herum. Sie alle schlachtet der offenbar glitzerschmuckgeile Blaubart, der auch gern eine Krone herumreicht, mit seinem großen Messer höchst blutig. Judith folgt diesem Treiben so ängstlich wie herausfordernd, immer wieder reizt sie ihren Mann ganz ungeniert sexuell, heizt ihn zu weiteren Enthüllungen an.
Eve-Maud Hubeaux‘ schlanker Mezzo treib den charismatisch-kernigen Karoly Szemeredy stetig in die Enge, doch er befreit sich immer wieder. Bartók und der besonders die dunklen, dräuenden Seiten der Partitur betonende Titus Engel am Pult liefern den grandiosen Soundtrack zu diesem Opernhorrorfilm, von dem man sich gleichwohl nicht abwenden mag.
Und dem leider keine gleichwertige Fortsetzung folgt. Schon Victoria Karkacheva, die jetzt die Judith im Goldkleid übernimmt, ist im zweiten Teil weniger persönlichkeitsstark, singt uninteressanter. Für die Wiederholung ist jetzt nur noch die geparkte linke Gangseite übrig, rechts ist eine Videowand, auf der Schnipsel des Vorangegangen laufen. Die stummen Figuren scheinen wieder lebendig, doch es wird weitgehend der übliche „Blaubart“-Geschlechterkampf in Gedanken inszeniert. Eher dröge, als Rückblick, eine Nähmaschine und eine keltische Harfe spielen eine größere Requisitenrolle. Warum, das wird nicht klar. Am Ende scheint die neue Judith tot, Blaubart verharrt wieder allein in seine Nacht der eingedunkelten Psyche. Und ein kleines Mädchen steigt durch den Spiegel.
Trotzdem können mit diesem immerhin halbstarken „Blaubart“ die anderen beiden Lyoneser Beiträge zum Thema nicht mithalten. Im Musée des Tissus der wichtigen Seidenhandelsstadt Lyon hat Dornys Nachfolger, der Regisseur Richard Brunel, eine viertelstündige Dokumentation über sein Mélisanden-Extrakt nach Maeterlinck samt diverser Musikschnipsel gedreht. In seiner typisch verblasen schwafelnden französischen Art macht das wenig Lust auf die komplette Produktion.
Und auch die „Ariane et Barbe-Bleue“-Inszenierung des unter Dorny in Lyon vielbeschäftigten Katalanenkollektivs La Fura dels Baus liefert wenig Neues gar Diskuswürdiges. Die sowieso schon statische, ganz auf die eine der Blaubart-Frauen konzentrierte Dukas-Oper von 1907 wird in der Neuninszenierung, für die Alex Ollé verantwortlich zeichnet, nicht wirklich lebendig. In der allzu glatten Ästhetik von Alfons Flores ist höchstens über zwei Stunden lang ein schick gelecktes Arrangement zu betrachten. Wir sind in einem raffiniert ausgeleuchteten Edelnachtclub oder Festsaal mit vielen Stehlampen und goldenen Stühlen an runden Tischen, der immer wieder hinter Schleiern verschwindet. Eine bessere Gesellschaft (eigentlich singen hier die rebellischen, Blaubarts Tun nicht länger dulden wollenden Bauern) gibt hinter Masken ihre Kommentare ab. Am Ende sitzt ein blutiger Blaubart (Tomislav Lavoie) gefesselt im Kreis seiner, fünf passiven Frauen, während ihn die sechste, die famos charakterstarke Katarina Karnéus, samt ihrer mit sattdunklem Alt insistierende Amme (Anaïk Morel) bewacht. Über das aktuell so wichtige Mit- und Gegeneinander der Geschlechter sagt der hübsch anzusehende, von Lothar Koenigs auftrumpfend souverän dirigierte Opernabend freilich rein gar nichts aus. Oder zumindest teil es sich am Halbdunkel des Computers nur schwer mit.
„Blaubart“ ist auf opera-lyon.com abrufbar, „Arianne de Barbe-Bleue“ wird ab April auf Arte gezeigt.