Der Alte lässt das Mausen nicht. Zumindest das der Blicke. Pier Luigi Pizzi steht im 95 Lebensjahr. Aber das hindert den Gefälligkeitsaltmeister der italienischen Opernregie nicht dran, sich wie stets und immer wieder neu beim Inszenieren von männlicher Schönheit inspirieren zu lassen – was er noch schamloser, dabei stets dezent auf gerade noch klassische Ästhetik setzend tut als der lange schon im ewigen Opernolymp verschwunden Kollege Franco Zeffirelli (der mit dieser Methode auch immerhin 96 Jahre alt wurde). Also sind die Kleider und Schnitte knapp, es gibt was zu gucken, aber es bleibt stets anständig. Bella figura Bellezza à la Italiana eben.
Und mehr noch: Pizzi ist nicht nur geistig, erotisch, sondern auch körperlich fit, schreitet ohne jede Hilfe, winkend und Küsse verteilend selbst noch drei Kulissenstufen bis zur Rampe des Teatro Alighieri herab. Hier hat er nämlich eben seinen jüngsten Premierendoppelschlag vollbracht: Im Rahmen der traditionsreichen Trilogia d’Autunno, der meist mit drei Operntiteln aufwartenden Spätherbstspielzeit des Ravenna Festivals: Monteverdi, Purcell und ein bunter Arienstrauss.
Zum à la Pizzi in klassisch-minimalistischer Manier präsentierten venezianischen „Ritorno di Ulisse in patria“ sowie dem britischen Kurzwerk „Dido and Aeneas“ (das hier mit der Ode to St. Cecilia verknüpft wurde) gesellte sich als dritter im Musiktheaterbunde der Countertenorstar Jakub Józef Orliński mit seinem halbszenischen Rezital „Beyond“ als hochkarätiges Gastspiel mit neun Ausnahmemusik von Il Pomo d‘Oro. Natürlich war auch bei Orlinski nach getaner Sangestat Pizzi der Erste beim Gratulieren. „Sie sind ein Engel“, schmeichelte er dem Polen. „Wir müssen unbedingt etwas zusammen machen.“ So hätte auch Leopold Stokowski gelockt, der bekanntlich einen bis zum 100. Lebensjahr reichenden Plattenvertrag hatte.
Neben Pizzi und den in beiden Stücken sinnig eingesetzten Sängern war in Ravenna freilich die für besondere, nämlich klangliche Kontinuität sorgende Kraft Ottavio Dantone mit seiner Accademia Bizantina. Denn nicht nur residiert diese berühmte Barock-Musikformation, die seit diesem Sommer auch für mindesten fünf Spielzeiten die akustische Wegmarke als Orchestra in Residence bei den Innsbrucker Festwochen der Alten Musik setzt, nahe Ravenna in Bagnacavallo. Sie ist längst so fester wie regelmäßiger Bestandteil der Sommersaison des Ravenna Festival. Und auch im Teatro Alighieri schaut sie nicht zum ersten Mal in der nebelgrauen Jahreszeit vorbei. Letzten Januar zeigte man hier das historische Vivaldi-Pasticcio „Tamerlano – Bajazet“ und im Januar 2025 gibt es Händels „Giulio Cesare“ in einer Neuinszenierung von Chiara Muti.
Jetzt hatte Dantone 20 Musiker aufgeboten, neben zwei Zinken und einer Streicherabteilung Laute und Gitarre, Cembalo, Orgel, Harfe und Cello/Bass-Kontinuo. So sorgte er für einen fülligen Monteverdi- wie Purcell-Klang von limitierter Farbigkeit, der aber große Konzentration auf den musikalisch-sängerischen Ausdruck ermöglichte. Und war darin Pier Luigi Pizzi ähnlich, der – als gelernter Architekt wie stets sein eigener Ausstatter wie Beleuchter – passende, sehr einfache Bilder gestaltete, immer auf das Wesentliche reduziert; dabei trotzdem abwechslungsreich und aussagekräftig, obwohl er sich in diesem intimen Rahmen ganz auf die Essenz dieser frühen Opernerzählungen konzentrieren konnte, sie weder überhöhte noch verfremdete. Dabei ließ er als souveräner Handlungs-Strippenzieher alles auf die natürlichste Weise im Fluss, vertraute Homer wie Vergil als verlässlichen Librettisten-Zuarbeitern.
„Die Rückkehr des Odysseus“ bleibt ein bitteres Nachkriegsstück, bei dem sich ein durch die Zeit entfremdetes Paar erst wiederfinden muss. Den Prolog, wo sich die menschliche Hinfälligkeit (bleich und fast nackt: der Countertenor Danilo Pastore) gegen die Zeit als schwarzem Mann mit Sense (Gianluca Margheri), das blinde Schicksal in Rot (Chiara Nicastro) und den ebenso gekleideten Armor (Paola Valentina Molinari) auf einer goldenen Kugel zur Wehr setzen muss, nimmt Pizzi Ernst, die Halbgötter sind auf einem weißen Wagen platziert, der vor einem kahlen, von Felsen umgebenen Baum steht. Zwei Türe und drei Stufen begrenzen architektonisch dieses Arrangement, vor dem sich eine weitere Wand mit drei Türen herabsenken lässt. Mehr ist nicht nötig. Zumal vorne schon links die noch stumme Penelope sowie auf einem Ehebett rechts deren frivole Dienerin Melanto (Charlotte Bowden) Platz genommen haben. Letztere vernascht den Freier Eurimaco (der knabenhafte slowenische Tenor Žiga Čopi).
Sie hat sich als antikes Kammerkätzchen mit den inzwischen im herrscherlosen Ithaka eingerissenen Verhältnissen schon abgefunden, will ihren Spaß haben, während die vermeintliche Regentenwitwe, die sich neu verheiraten soll, noch Zeit schinden will. Die schöne, durchscheinend zarte Delphine Galou singt und deklamiert mit opaker Vokallinie, selten sich auflehnend. Eine Verlorene – müde lachend im Wartesaal Ithaka.
Die Götter, die die Irrfahrt des Odysseus ausgelöst haben, sie begleiten und beobachten, sind noble klassische, in ihren Gefühlen sehr menschliche Stereotypen. Neptun (Federico Domenico Eraldo Sacchi) hält mit bärtigem Kahlkopf seinen Dreizack direkt in der Hand. Fein zickig ist die Juno (Candida Guida), ihr Gatte Jupiter wird von einem echten Falken als Adlerersatz begleitet und zeigt sein Goldblitzzepter zückend in lila Reststoff Muckis wie Sixpack bis zum Anschlag (noch einmal der jetzt erblondete Gianluca Margheri). Nur Minerva (Arianna Venditelli), Beschützerin des Odysseus, grüßt erst im Chiton auf dem Wagen, um dann in flammender Singrede ihrem Rettungswerk nachzugehen.
Doch wer ist hier am Ende gerettet? Die Freier liegen zu viert in ihren Brokatblusen hinter der Bühne in ihrem Blut. Iro (Robert Burt), der fette, furzende Schmarotzer, läuft von dannen, während der Hirt Eumete (Luca Cervoni) Herr und Herrin wieder zusammenführt. Auch Penelopes Amme Ericlea (Margharita Maria Sala) weiß nicht weiter. Selbst Telemach (kein Counter, sondern ein erstaunlich angegrauter Tenor: Valerio Contaldo), der als von der vergeblichen Vatersuche zurückkommt, sitzt, als dieser endlich wieder da ist, desillusioniert in der Ecke. Das Hoffen hat ein Ende, alle Wunschträume sind zerstäubt. Und doch: Die wunderbar frauliche, warmstimmige Penelope von Delphine Galou sowie der virile, verschmitzte Odysseus von Mauro Borgioni finden sich wieder, ein Paar wenigstens hat die Zeit überstanden.
Da ist Pier Luigi Pizzi ganz optimistisch. Ähnlich feinfühlig doch mit strahlendem Ton führt Ottavio Dantone seine Accademia Bizantina durch diese Wunderpartitur, die schon 1640 so zeitlos gültig Gefühle abbilden konnte, indem sie von allzu menschlichen Irrungen zu erzählen wusste. Und locker schlendern die Musiker einen Abend später zum zweiten, dem Purcell-Teil nach der gegenseitigen Begrüßung von der Bühne herab Jetzt ist der gleiche, weiße, architektonische Rahmen hinten von einer Rotunde und zwei Türen verschlossen. Drei quadratisch offene Fenster gibt es, hinter dem mittleren ist eine Orgel zu sehen. Das wirkt wie der Aufführungssaal des Mädchenpensionats in Chelsea wo 1688 wohl die erste Aufführung von „Dido and Aeneas“ stattfand. Ottavio Dantone zieht diesmal das Tempo an, selbst Didos Lamento bleibt nie im Schmerz stehen.
Pier Luigi Pizzis Regie wirkt hingegen noch skizzenhafter, lässiger, auch allegorischer. Da steht schon zu Anfang ein Tisch mit Instrumenten, wo sich die Musiker bedienen, aber auch Sancta Ceciia ihre Miniaturorgel abholt. „Hail, Bright Cecilia“ wird als Einstimmung zelebriert, auf die dann das einstündige Purcell-Werk folgt; einige der Sänger sind hier ebenso dabei.
Wieder hören wir Charlotte Bowden mit silbrigem Sopran, die dann auch die Belinda gibt, Delphine Galou (später die Zauberin) und Candida Guido sind als Mezzo dabei, der Tenor Žiga Čopi (auch Merkur), der Bariton Mauro Borgioni und Gianluca Margheri wie Federico Domenico Eraldo Sacchi als tiefe Männerstimmen. Als Dido, die in orangenem Seidenkleid auf einer schwarzen Liege drapiert ist, hören wir erneut die versatile Arianna Venditelli, Aeneas ist wieder der Odysseus Mauro Borgioni, rot beleuchtete Hexen sind Chiara Nicastro und Paola Valentina Molinari.
Und als sinnreiches Satryrspiel dieser Trilogie lädt einen Machmittag später der polnische Counterstar Jakub Jozef Orliński mit seiner fabelhaften Il Pomo d’Oro-Begleitung nach „Beyond“ – „ins Jenseits“ oder eben „Darüber hinaus“. So hieß sein Erfolgsalbum von 2023 wie auch die Tournee. Die durch die Parkettmitte kommenden Musiker tragen schwarz, Orliński erscheint in einem ebensolchen Umhang mit aufgestickten Flammen „Voglio Di Vita Uscir“ („Ich möchte das Leben verlassen“) so startet er mit einer Kanzone von Claudio Monteverdi.
Dies und was folgt von Caccini, Frescobaldi, Pallavicino, Netti, Strozzi, Cavalli sind Musiken des Seicento, des schillernden 17. Jahrhunderts mit seinen Liebesschwüren und emotionalen Seufzern. Eine zerrissene Welt des Gefühls, von Orliński so kokett wie gekonnt für seine bebende, sehrende Stimme angepasst, Spielmaterial für ein Programm der Verführung wie Verzweiflung. Das kipp beständig und dieser Faun wie Rattenfänger nimmt sein Publikum sofort mit, schlägt es in den Bann. Das hat eine delikate Routine und ebenso viel Spontaneität. Und dem Umhang erscheint ein heller Anzug, aber wieder mit Trauerrand. Am Ende ist Orliński barfuß, in schwarze Bluse, singt am Boden liegend, deutet sogar ein paar Tanzbewegungen an, auf dem kleinen Podium ist aber diesmal kein Breakdance drin.
Trotzdem fühlt man sich verzaubert, durch meistenteils völlig unbekannte, doch geschickt adaptierte Barockmusik. Die hier die Intimität von Kabinetten und Salon wahren kann, für die sie einst geschrieben wurde. „Amarilli, mia bella“ ist da schon der einzige Schlager für Orlińskis sinnliches Counter-Timbre. Und Jakub Jozef Orliński serviert es so spontan, obwohl er viel Übung mit dem Programm hat, in das selbst die üppig gestreuten Zugaben noch eingebaut sind, bei denen sogar das Publikum mitsingen darf während der Sänger der mit großem Spaß am eigenen Können bis ins baritonale Brustregister hinabsteigt! So hat diese gelungene, gerundete Herbsttrilogie à la Ravenna auch noch ihren finalen Höhepunkt.