Wie plane ich pannenfrei coronakonform? Das war für die Opernhäuser im letzten Frühjahr die Herausforderung: sicherzustellen, mit einem adaptierten Premierenplan nicht wieder von der Pandemie ausgebremst zu werden. In Amsterdam zum Beispiel wurde aus Verdis „Otello“, mit dem sich der neue Chefdirigent Lorenzo Viotti vorstellen wollte, ein kleineres gemischtes Doppel aus Haydns Paukenmesse mit Ballett und elektronischen Klangeinwürfen als modernes Multimediaspektakel sowie Zemlinksys „Zwerg“ mit vollem Orchester auf der Bühne und zurückhaltender szenischer Umsetzung davor. Und an der Oper Frankfurt wo man sowieso in auf in Deutschland einmalige Premierenvielfalt setzt, da hat man sich für zwei barocke und klassische Raritäten entschieden, die keinen Chor dabeihaben und weitgehend mit Ensemblemitgliedern besetzt werden konnten. Und sogar an einem Wochenende herausgekommen sind.
Den Auftakt machte Georg Friedrich Händels selten gezeigter, dabei reizvoller „Amadigi di Gaula“ aus seiner frühen Londoner Zauberopernzeit von 1715. Der hier natürlich wieder mal auf die Liebesintrige reduzierte Stoff geht zurück auf Amadis de Gaula als Held eines Ritterromans, der – zusammen mit seinen vielen Erweiterungen und Fortsetzungen – in der Renaissance eine der beliebtesten Lektüren in Westeuropa bildete. Ähnlich wie etwas später der vielfach (auch von Händel) für die Oper ausgeschlachtete „Orlando Furioso“ Ariosts oder „Das befreite Jerusalem“ Torquato Tassos. Zauberin Melissa hat sich in den Ritter Amadigi verguckt. Der aber liebt Oriana, für die ebenfalls sein Kumpel Dardano schwärmt. Eine unwichtige fünfte Person wurde in der Inszenierung des jungen Italieners Andrea Bernard im Bockenheimer Depot gleich ganz gestrichen.
Zufälligerweise wird „Amadigi“ gegenwärtig auch in Meiningen gegeben, wo Hinrich Horstkotte mal wieder verweisreich mit dem barocken Kulissentheater und aufwändigen Barockgewändern illusionistisch spielt. In Frankfurt ist alles strenger und heutiger. Nüchtern weißgekachelt führt schon der Weg zur Zuschauertribüne. Wasser blubbert, Rabenschreie krächzen. Und ein wenig spooky sieht auch das coole Wellnessbadambiente aus, das sich Alberto Beltrame ausgedacht hat. Links leuchten ein längliches Becken und davor ein Medizinschrank voller Ampullen und Präparate, rechts gibt es Duschen. Dienstbare Bademeister warten in schwarzen Uniformen.
Hinter einer weißen Gardine ouvertüren-groovt sich Roland Böer mit dem weichspielenden Opern- und Museumsorchester ein. Sein Händel wird auch im weiteren Verlauf ein eher sanftmütig-konturenarmer sein; lediglich die Trompete setzt schärfere Akzente. Über allem prangt das Publius-Terentius-Zitat von den „Amantes Amentes“, den Liebenden die durchgeknallt sind.
Und um Verliebte und Verrückte geht es auch in den folgenden drei Stunden. Andrea Bernard löst recht geschickt das Libretto-Problem, dass hier nur gebarmt, gefleht und gelitten wird, und dass ein weiteres Paar fehlt, um die Verwirrung wirklich zu würzen. So beschränken sich die Hindernisse, bis Amadigi endlich seine Oriana in den Armen hat, auf die Zaubertricks von Melissa, die aber nicht als Bühnenmagie, sondern als psychologische Manipulationen vorgeführt werden. Am Ende geht die ins Wasser, auch Dardano kommt durch seinen Exfreund Amadigi zu Tode. Wird das Paar auf dieser Grundlage glücklich werden können?
So erleben wir vornehmlich ein hochstimmiges Quartett handelnder Personen (eine alte Dienerin schlurft noch herum) mit ihren Seelennöten, die zu visualisieren sind. In dem seltsamen Wellnesstempel von Melissa versuchen zunächst die offenbar mit Drogen ruhiggestellten Amadigi und Dardano, sich mit Blutegeln cleanen. Aber ihre emotionalen Befindlichkeiten holen sie schnell ein. Der Countertenor Brennan Hall zeigt seinen gestählten Body und offeriert eine etwas flackrige, aber koloraturgewandte Stimme, macht so auch Amadigis Dilemma vokal glaubhaft.
Mit dunkelfülligem Mezzo ist freilich Beths Taylors Dardano der bessere Kerl und sie darf am Anfang des zweiten Teils (man spielt die drei Akte mit einer Pause) mit der auf den Erfolgsschlager „Lascia ch’io pianga“ aus dem Vorgängerstück „Rinaldo“ verweisenden Arie „Pena tiranna“ sogar eine der wirkungsvoll langsamen Nummern, dieser temperamentmäßig eher zurückhaltenden, aber melodisch reichen Oper singen.
In dem gar nicht spaßigen, eher horriblen Bad, das als magischer Garten wie Zauberquelle fungiert, herrscht im kachelernüchternden Heilambiente zwischen schwarzem Vogelflaum, Spritzen und giftiggrünen Wässerchen Melisssa als hexisches Mannweib in schwarzen Zottelhosen auf Plateausohlen. Elizabeth Reiters klarer, heller, starker Sopran gibt ihr tonfunkensprühende Wut und haltloses Temperament im Thermalsanatorium, wo ihr Herz ebenfalls im Medizinschrank steht. Also reine Sopranunschuld gleißt hingegen mit runder, voller Stimme und schönem Legato in klinischer Reinheit Kateryna Kaspers Oriana zwischen Rabenvögeln und aus dem Schnürboden wehenden Kleidern.
Irgendwie sind hier alle am falschen Kurort gelandet. Aber Händels reiche Einfallsfülle macht den Abend unterhaltsamer als die formstrenge Regie. Doch während Bernard versucht, mit heute modischen Inszenierungsmöglichkeiten das Seelenleben seiner Protagonisten nach außen zu kehren, interessiert sich andernabends im Frankfurter Opernhaus sein amerikanischer Kollege R.B. Schlather geradezu ostentativ nur für die schöne Oberfläche und die makellos wie ein Maschinenwerk abschnurrende Buffa-Mechanik. Er inszeniert Domenico Cimarosas 1778 in Rom von einem reinen Männerensemble mit zwei Kastraten uraufgeführtes Intermezzo in zwei Akten „L’Italiana in Londra“.
Die lediglich in einem Hotel verortete Handlung um die Italienerin Livia, die verkleidet in London ihren geliebten Lord sucht, der auf Befehl des Vaters standesgemäß heiraten soll, und die ein paar amüsante Abenteuer mit zwei ihr nachhechelnden Hotelgästen und der Besitzerin erlebt, bevor sie selbstredend in den Armen ihres dem Papa nicht gehorchenden Lovers landet, die wird hier durchaus zur komödienquirligen Abstraktion einer D-Varianten-Quarantäne. Fünf Personen gefangen an einem Ort des Durchreisens, heimelig, aber unpersönlich.
Paul Steinbergs Bühnenbild lässt alle noch mehr außen vor. Eine mal schwarzweiße, dann weißschwarze Tonne im Balkendesign auf der Drehbühne hält die Mitwirkenden eng an der Rampe, lässt sie kaum in ihre Zimmer. Da dräut hinter den Türen meist sowieso nur die Wand oder es raucht epidemisch, und ein Ritter stapft als Wiedergänger des „Don Giovanni“-Komturs herein. Links steht bisweilen eine gelb leuchtender Empfangstresen, der auch als Bar für buntleuchtenden Cocktails dient. Ein paar Sessel zuckeln vorbei, rechts wartet eine Telefonzelle, in der man sich amourös auf engstem Raum verknoten kann, die aber auch den einzigen Kontakt zur Außenwelt darstellt. Grellkreischig sind Doey Lüthis Kostüme dieser deutlich ausgestellten Typenparade.
Gefangen in der Uniform seines Standes erweist sich Iurii Samailov als Lord Arespingh als Mann mit Melone, aber ohne Schirm und Charme. So scharf wie die Kante seines Undercuts tönt auch sein bisweilen zu überdrucklauter, eigentlich angenehmer Bariton. Ihn imitiert, auf weibliche Art, die mit großer Virtuositätsgrandezza sich ausspreizende Angela Vallone als Livia. Erst ist sie Kerl, dann Gamine, schließlich femme fatale in rosa Puschelrobe.
Bianca Tognocchi mit Blondperücke und schrillen Fummeln gönnt sich generös die Hotelbesitzerin Madama Brillante als komische Alte, singt die aber jugendfrisch verplappert. Und sie schnappt sich zum Finale den Italo-Papagallo Don Polidoro: Gordon Bintner serviert mit viel Brusthaar-Gewuschel zu roten Hosen, weißem Hemd und grüner Spaghetti-Serviette spaßig den Doof-Macho, der sogar an einen Stein zum Unsichtbarwerden glaubt. Als niederländisch hochgehendes HB-Männchen macht Theo Lebow bella-Buffa-figura.
Eingepasst und doch frei abgezirkelt im Korsett der Cimarosa-Nummern, die sich besonders zu zwei fluffigen Kettenfinale genüsslich ausweiten, macht dieses muntere Quintett drei Stunden lang Zuhör- wie -schaulaune. Diese Musik träufelt galant, ist handwerklich brillant gemacht, hält mit architektonischen Unregelmäßigkeiten wach, die Leo Hussain mit Gusto, aber unerbittlich raschen Tempi vorantreibt. Aber gegen die Rossini-Verwandten „L’Italiana in Algeri“ und „Il Turco in Italia“ kommt diese nett-neckische Prä-Brexit-Italienerin in London dann doch nicht an. Doch wir haben sie gern mal als gänzlich Unbekannte in unserem Repertoireraritätenkörbchen gehabt.