Schon interessant, da belassen es große Opernhäuser wie Hamburg, Dresden, Leipzig, Essen, Nürnberg, selbst das gern innovative Stuttgart im Hinblick auf ihre Premierenlisten mit dem Abspulen des ewig Repertoiregleichen. Immerhin bieten als Balance andere Theater wie Bonn oder Dortmund rarste Raritäten.
So zeigte man am Rhein mit Rolf Liebermanns Erstling „Leonore 40/45“, Meyerbeers „Das Feldlager in Schlesien“ und zuletzt von Franckensteins „Li-Tei-Pe“ Jahrzehnte, ja Jahrhunderte lang nicht Gespieltes. Und an der Ruhr, da bündelte man zum „Wagner Kosmos“ um dessen Geburtstag herum, parallel zum Start des mit der „Walküre“ animierend anfangsgeschmiedeten Konwitschny-„Ring“, bedeutende zeithistorische Stücke, die auf den Komponisten einwirkten, oder auf dieser selbst ausgestrahlt hat. So folgte allein diese Saison auf die „Frédegonde“ Ernest Guirauds, die von Camille Saint-Saëns und Paul Dukas vollendet wurde, der „Fernand Cortéz“ Gasparo Spontinis, in der eben editierten Urfassung von 1807 und auf Französisch, nicht im (wenn überhaupt) heue gängigerem Italienisch.
Ein Stück reinster Propaganda. Napoleon wählte sich ausgerechnet den brutal über die Azteken triumphierenden, vermutlich ihren Herrscher Moctezuma II. töten lassenden Konquistador Hernán Cortés als Alter ego, um durch eine Oper seinen aktuellen Feldzug in Spanier zu legitimieren. Und der musikliebende selbsternannte Kaiser der Franzosen bestellte bei seinem Lieblingskomponisten Gasparo Spontini dazu das passende Stück – als große Oper in drei Akten, als revolverpistolenhaftes Spektakel, in dem weder Menschen noch Maschinen und Pferde schon gar nicht geschont wurde.
Uraufgeführt 1809, wurde in diesem dreisten Klangwerk einer Geschichtsverfälschung der Brutalo Cortez weißgewaschen, mit seinem unverbrüchlichen christlichen Glauben und seiner zarten Liebe zur Aztekin Amazily. Cortéz verzeiht immer wieder den missgünstigen Ureinwohnern, die fast ganz freiwillig ihr Gold und Land ausliefern, und er darf am Ende sogar die ebenfalls längst im wahren Glauben angekommene Braut ehelichen.
Obwohl auch Vivaldi und später Carl Heinrich Graun (sogar auf ein Textbuch von Friedrich II.) Moctezumas Leben legendenhaft vertont haben, freilich zu Gunsten des edlen Wilden, wurde ausgerechnet Spontinis nicht mal besonders gut komponiertes, aber eben schlagkräftiges Vokal-Fanal einer kulturellen Aneignung für die Operngeschichte des 19. Jahrhunderts bedeutend. Denn die spätere Grand Opéra nahm an den sperrigen, trotzdem wirkungsgeschickt von den Librettisten Joseph Esménard und Victor-Joseph Étienne de Jouy (der schrieb auch „La vestale“ für Spontini, „Les Amazones“ für Méhul, „Les Abencérages“ für Cherubini und „Guillaume Tell“ für Rossini) verwobenen Tableaux Modellmaß. Selbst Richard Wagner zeigte sich für seine späteren Opern von diesem heute hoffnungslos altmodischen Ding beeindruckt.
In Dortmund spielt man nun die dritte, durch M.E.G. Théaulon de Lambert bearbeite Fassung, die 1824 in Berlin während Spontinis Zeit als Preußischer Generalmusikdirektor in deutscher Übersetzung herauskam, erstmals im originalen Französisch. Und auch wenn sich Christoph JK Müller am Pult der motiviert aufspielenden Dortmunder Philharmoniker ertragreich Mühe gibt, der oft holzig fransenden, grobgehauenen Partitur tönende Finesse und Tiefe zu geben, jenseits einiger aparter Duett-Terzengführungen, hier überzeugt mehr Form und Disposition, auch die freche Wahrheitsbiegung denn der musikalische Inhalt.
Leider hält sich Eva-Maria Höckmayr in einem mit Graffiti verschmierten Goldkasten von Ralph Zeger regielich sehr zurück, stellt blockhaft aus und gefriert zum Tableau, was dieses unhandliche Stück noch schwieriger zu greifen macht. Cortéz (der nimmermüde höhenkraxelnde Mirko Roschkowski) wird gern in historischem Kostüm einer Vitrine präsentiert, die sich herabgesenkt hat, sein stummes, jüngeres Alter Ergo wenig sinnergiebig an der Seite. Die Promi-Azteken tragen Federkopfschmuck und halten Kreuz und Schwert der Spanier ihr herausgerissenes Herz entgegen: Sind halt so, die Indios. Ein wenig primitiv das, wo doch die Oper aktueller denn je die fanatische Richtigkeit der eigenen Religion auf beiden Seiten gegeneinander ausspielt. Bis dann Eroberer aller Zeiten sich auf einem Podest als Statisten aufpflanzen.
Doch dann reißt immer wieder die schamlos gefällige, schlicht einschmeichelnde Musik mit. Die Dortmunder Philharmoniker spielen mit Temperament und Kraft auf, militärisch straff ist meist der Rhythmus, doch auch Männerstimmen verschlingen sich zärtlich in den Ensembles. Schön lyrisch fluten die weiblichen Kantilenen, und immer wieder peitschen die Chöre, von welcher Seite auch immer, das aktionistische Geschehen voran.
Melody Louledjian singt die geweißelte Amazily mit schwebendem Schmelz, am Ende darf sie durch den Zuschauerraum abgehen, während ein Double sich mit Cortez verheiraten muss. Mandla Mndebele ist baritonal weich der schwache Montezuma, der gegen seinen fanatischen Oberpriester (Denis Velev) nicht ankommt. Aufhorchen lässt der feine Tenor von Sungho Kim als Cortez-Bruder Alvar, James Lee gibt überzeugend Télasco, den Bruder Amaziliys. Den spanischen Priester Moralès (mit Holzkreuz) singt voluminös Morgan Moody. Unbedingt erwähnenswert: der engagierten, von Fabio Manici vorbereitete Chor, der diesem immer wieder faszinierend platten Machwerk, den menschlichen Tonrückhalt gibt – bis hin zum Historie fürchterlich verbiegenden, christkatholisch triumphierenden Finale, wo die Eroberer plötzlich die Vergebenden sind. Das muss man gesehen haben. Gerade heute.