Im Opernwien (gibt es ein anders?) wurden 2019 ein fundamental wichtige Baustein dortiger Hochkultur ausgetauscht – die schon seit 2012 nicht mehr gespielte, historistisch kulissenvolle, kostümpralle „Lucia di Lammermoor“-Anrichtung Boheslav Barlogs. Nach 40 Jahren, Ende 1978 war Premiere. Die Wiener hatte sie einst ins Belcanto-Delirium versetzt, die damalige Primadonna Edita Gruberova wurde als Königin der Koloraturstratosphäre endgültig zum Star katapultiert.
Zu sehen war im Haus am Ring ein ernüchternd kahles, monochrom schwarzgraues, in einem minimalistischen 19. Jahrhundert angesiedeltes Schottland, anonym von Chantal Thomas aufgeschachtelt. So wie es der diesmal sehr einfallsarme Regisseur und freudlose Kostümbildner Laurent Pelly schon im koproduzierenden, viel kleineren historischen Opernhaus von Philadelphia hatte installieren lassen. Ohne Karos und ruinöse Schlossgemäuer, ohne Nebel und Hochmoor. Dafür mit viel Schnee, transparenten Wänden und sich bis in den blutrot ausgeschlagenen Festsaal mit Schießscharten-Fenstern hineinziehenden, schwarzschmutzigen Endmoränen. Alles könnte hier spielen. Verloren und klein stehen die Menschlein rum, der Chor bleibt pittoresk zur tönenden Mauer arrangiert.
Das wurde und wird jetzt in der ersten Wiederaufnahme belebt, leider zu wenig erwärmt durch ungewohnt plastische, differenzierte, dynamisch weitgefächerte Orchesterklänge. Denn der kluge Kenner Evelino Pidò bringt dem spätestens seit der „Anna Bolena“-Premiere 2011 von ihm überzeugten Wiener Staatsopernorchester neuerlich einen ungemein vielschichtigen Donizetti bei: Pidòs Belcanto-Welt als Wille und Vorstellung. Das rundet sich fein, kann aber auch schroff und grell klingen, ohne dass die Sänger zugedeckt werden. Pidò dreht intensiv am Lautstärkeregler und am Tempohebel, vergrößert liebevoll Details. Man höre nur das ohne starre Rhythmusmechanik sanft durchpulste Sextett, die flauschigen Hörnerpassagen, die zwei zart sich kräuselnden Celli in der zweiten Stretta-Strophe der Tenor-Finalarie, wo Pidò leider ein wenig schleppt – der Tenor aber kann es verkraften.
Der nämlich heißt Benjamin Bernheim. Zuletzt sang er in dem Stück 2015 in Zürich den Bräutigam Rodrigo, der ist nach ein paar Takten im zweiten Akt, dem Sextett und Finale tot; in Wien gab ihn jetzt Josh Lovell hervorragend klar. Bernheim aber ist nun erstmals zum Edgardo aufgestiegen, und wieder muss die Primadonna Angst haben, dass der Tenor ihr die finale Schau stiehlt. Anders als bei anderen italienischen Rollen stört diesmal das stählerne Timbre nicht, Bernheim baut es als Charakterzeichnung für eine nicht eben sympathische Figur gekonnt ein. Er singt auch nicht mit voix mixte, sondern mit zurückgenommener Vollstimme, kann aber auch trompetige Töne. Das ist stilistisch immer richtig, schön hält er seine ruhig gesponnenen Legatolinien, kann sich auf die gute Projektion und Durchschlagskraft verlassen. Darstellerisch ist es eher Autopilot. Aber Schauspiel ist in dieser unfroh grauen Inszenierung sowieso nicht vorgesehen.
Von der Premiere ist noch der verlässliche George Petean als schurkischer Lucia-Bruder Enrico dabei. Auch er bemüht sich um kultivierte Linien, die Duette sind engagiert, einige Spitzentöne werden aber nur mit Mühe und Kraft erreicht. Auf die kann Roberto Tagliavinis Raimondo verzichten, der lässt seinen schlanken, hellen Prachtbass einfach strömen und wertet so immerhin musikalisch den passiven Beichtvater auf.
Die Lucia singt mit Bernheim jetzt auch noch in Zürich und im Sommer konzertant in Salzburg Lisette Oropesa. Und man kann sich dort auf das gegenwärtig sicher perfekte, auch in der Chemie gut zusammenpassende Spitzenduo in diesen Rollen freuen. Sie spielt nicht nur als einzige beherzt die schon vor der eigentlichen Wahnsinnsszene verhuschte, verschüchterte, autistisch zuckend in der Ecke kauernde Lucia. Zum Showdown eilt sie von der Seite, auf dem Boden delirierend, offenbar vergewaltig.
Bei der Premiere hatte Evelino Pidò noch klug der unzureichenden, höhenkurzen Olga Peretyatko alle Spitzentöne gestrichen. Das mochte zwar philologisch korrekt gewesen sein, aber es wirkte nicht, wir wissen kaum, was anno 1835 in Neapel wirklich gesungen wurde. Und wir mögen uns einfach nicht vorstellen, dass die prototypische Primadonna-Wahnsinnige der romantischen Oper so simpel und unspektakulär davonkommt. Jetzt aber sang die Oropesa, von der von Donizetti ursprünglich geforderten Glasharmonika umspielt (Flöte und Klarinette mischen sich bisweilen betörend dazu), alle vom Publikum so geliebten und beklatschten Spitzentöne. Sie tat das freilich nie als Selbstzweck, jede Note wirkte als verzweifelte Geste einer längst nicht mehr geistig auf dieser Welt Weilenden. Die Oropesa sang zugleich stark und entrückt, bewusst wie verdämmernd. Die Töne schimmerten opak und hatten doch kristallinen Strahl. Ganz wunderbar!
Mit der vernehmbaren Alisa von Patricia Nolz und Hiroshi Amako kultiviertem Normanno war das Repertoire-de-Luxe. Weit überzeugender als die bisherigen Wiener Staatsopernpremieren diese Saison. Und 2022/23? Das geht es dort handelsüblich weiter. Der künstlerisch ziemlich auf der Stelle tretende GMD Philippe Jordan lässt sich bei neuen „Meistersingern“ (Routinier Keith Warner inszeniert) vernehmen, einer frischen, ebenfalls eine alte Barlog-Inszenierung ersetzenden „Salome“ (Regie führt der Schauspieler Cyril Teste, der bisher nur einen „Hamlet“ an der Opéra-Comique vorzuweisen hat) sowie der Fortsetzung des da-Ponte-Zyklus mit Barrie Kosky in „Nozze di Figaro“ (hat dieser schon mal an der Komischen Oper Berlin herausgebracht).
Dazu gibt es „Dialogues des Carmélites“ (von Bertrand de Billy bereits im Theater an der Wien dirigiert), wobei auf der obligatorischen Frauenposition die Jossi-Wieler-Assistentin Magdalena Fuchsberger ans Regiepult darf; während dort für Komplettierung des für Wien wenig notwendigen Monteverdi-Zyklus der mit dem Chefdramaturgen Sergio Morabito Platz nimmt. Am spannendsten klingt noch auf dem Papier ein Mahler-Projekt „Von der Liebe Tod“ zum 125. Jahrestag der Übernahme von dessen Staatsoperndirektion, worin Calixto Bieito „Das klagende Lied“ mit den „Kindertotenliedern“ szenisch verknüpft. Lorenzo Viotti dirigiert.
Und bei den Wiederaufnahmen kann man sich auf „La Juive“ mit dem Rollendebüt von Sonya Yoncheva, Roberto Alagna, Cyrille Dubois und Günther Groissböck freuen. Yoncheva singt später auch hier ihre erste Butterfly neben Charles Castronuovo, Asmik Grigorian ist als Santuzza wie Nedda zu erleben. Und Elina Garanca singt endlich ihre erste Amneris – womöglich neben Anna Netrebko – denn der Staatsoperndirektion langen deren halbherzige Putin-Distanzierungen, um die österreichische Staatsbürgerin neuerlich mit dortigen Steuergeldgagen zu verköstigen…