Thierry Escaichs dritte Oper „Shirine“ in Lyon uraufgeführt: Die Inszenierung Richard Brunels offenbart mehr westöstliche Gegenwart als die Musik

Fotos: Jean-Louis Fernández

Der 57-jährige Thierry Escaich ist nicht nur Organist und Hochschullehrer, sondern längst auch einer der wichtigsten französischen Komponisten der Post-Boulez-Ära. Drei Opern hat er bisher geschrieben. Nach dem 2013 an der Opéra de Lyon uraufgeführten „Claude“ kamen jetzt innerhalb von ein paar Wochen „Point-d’Orgue“, ein szenischer Einakter über sein Lieblingsinstrument, am Pariser Théâtre des Champs-Élysées heraus – und neuerlich in Lyon „Shirine“.

Diese große, französische Oper in 12 Bildern war eigentlich schon für 2020 geplant, der Corona-Virus hat anders entschieden. Das Libretto hat der franko-afghanische Schriftsteller Atiq Rahimi (Prix Goncourt 2008) bei Nizami Ganjavi, einem persischen Dichter des 12. Jahrhunderts gefunden. Es erzählt von der Hochzeit des islamischen Königs Khosrow von Persien und der christlichen Prinzessin Shirine von Armenien.

Ost und West sollen sich hier vermählen, doch es wird viel komplexer, denn die Leidenschaften der Menschen wie die Unterschiede der Kulturen führen zu immer neuen Komplikationen. Obwohl der Potent sie sehr liebt, ist Shirine letztlich nur eine Frau im Harem, sie muss teilen, hat aber ebenfalls Liebhaber, der Sohn ihres Mannes begehrt sie, ermordet den Vater, sie töte sich aus Kummer über der Leiche.

Was sich annähern wollte, bleibt letztlich isoliert. Ein sehr modernes und zeitgemäßes Thema. In Lyon, wo man schon seit langem erfolgreich versucht, gerade auch die moderne Oper wieder gesamtgesellschaftlich relevant werden zu lassen ist diese Shirine eine erstaunlich moderne Frau. Die diskutiert, kritisiert, begehrt, sich nimmt, was sie will. Das sind neben dem Ehemann noch drei weitere Männer: die Künstler Farhâd, ein Bildhauer, und der Miniaturmaler Chapour.

Der eine meißelt einen Pferdekopf aus dem Fels, der als Coup de Théâtre sich drehend auch als riesiges Liebeslager dient. Der andere pinselt ganz fein seine Gefühle, was sich immer wieder auf der erstaunlich vielfältigen, dabei einfachen Bühne von Etienne Pluss wie eine persische Chronik auf umschlagenden Buchseiten ansieht. Die gleichzeitig aber auch als – von kargen Lehmhügeln eingegrenzte – Zimmerwände fungieren. Diese wiederum stehen in einem weiteren weißen Zimmer mit übergroßer Tür; alle bleiben hiereingesperrt in ihrem Beziehungsgeflecht.

Zu dem schließlich noch Chiroya, der Sohn von Khosrow, gehört. Ebenfalls Shirine hörig, führt er die Konflikte in eine weitere Generation und erschießt im Videofinale seinen sich mit Shirine vereinigenden Vater; da treffen sich persische Historie und ödipal-griechische Tragödie.

Ein beständig sich drehendes, komplexes, sich immer wieder emotional beschleunigendes Personenkarussell zwischen Liebe, Eifersucht und Hass. Den flammenden, in Da-Capo-Arien sich ergießenden Affektmomenten der Barockoper nicht unähnlich. Doch deren spannungsvollen Furor und gleißende Klanglichkeit sucht man in der neuen Partitur des doch als sensualistisch funkelnden Spektralisten bekannten Thierry Escaich vergeblich.

Allzu müde schleppt sich das gleichförmig tönend voran, bereits mit dem ersten, faden Glissando. Da glitzert und funkelt es nicht im Dialog wie im Kampf der Kulturen, im Liebeslabyrinth zwischen West und Ost. Obwohl im Orchester auch Qanûn (Kastenzither) Belul- und Duduk-Flöten zu finden sind. Die Figuren artikulierenden sich in bravem, grauen Parlando, ebenso der allzu gefällig kommentierende Chor. Ausbrüche sind selten, auch das von dem engagierten Franck Ollu lässig vorangetriebene, zu einem breiten dynamischen Spektrum animierte Orchester tönt flau und grau vor sich hin.

Erst gegen Ende wird es abwechslungsreicher, hier ist dann auch ein Hauch von melismensattem Orient zu hören. So überrascht die Instrumentierung mit extremen, auch Piano-Effekten zwischen Perkussion und Holzbläsern, fesselt und animiert das Geschehen auf der Bühne.

Das freilich von Richard Brunel, dem neuen Intendanten des Hauses, der schon vor zwei Jahren hätte Regie führen sollen, über 110 Minuten meisterlich minimalistisch interessanter ausgedeutet wird als die Musik. Statt dem Voyeurismus einer nackten Geliebten, die sich orientalisch-schwül ihrem König präsentiert, zeigen gleich zu Anfang sieben geschundene Frauen ihre zugenähten Münder (vergrößert durch die Videos Yann Philippes), ziehen Fäden, um wieder eine Sprache zu haben, Herrinnen ihrer Geschichte wie ihres Schicksals zu werden.

Brechtisch verfremdet wird das immer wieder, schon durch zwei Erzähler und Kommentatoren. Fließend sind die Übergänge der Kulturen wie sie plastisch auch Wojciech Dziedzic orientalisch stilisierte Kostüme und Henning Strecks sprechendes Licht unterstreichen.

Jeanne Gérard hat als Sihrine nicht nur die Hosen an, ihr farbiger Sopran packt, als weitere Frau ist nur ihre königliche Tante Chamira (mit erdigem Mezzo: Majdouline Zerari) zu hören. Der Tenor Julien Behr singt den Khosrow mit so feinen wie gequälten Tönen jenseits jedes Machomacktertums; er kann eben aus seiner kulturell erlernten Rolle nicht heraus. Die älteren Liebhaber sind beides Baritone: Den Skulpturenformer Farhâd gibt genauso kantig Florent Karrer, zurückhaltender tönt Jean-Sébastien Bous Chapour. Jugendlich leidvoll gibt sich Stephen Milles (Chiroya). Die beiden Erzähler sind der meckrige Countertenor Théophile Alexandre (Nakissâ) und der sonore Laurent Alvaro (Bârbad).

Das wie immer herzwärmend diverse Publikum in der Opéra de Lyon kann sich trotzdem für das deutlich Gegenwärtige in diesem so fern liegenden Stoff begeistert. Die Inszenierung holt den vehement in die Gegenwart, wo die Musik leider im wenig animierenden Ungefähr verharrt.

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