Die vermutlich letzten Komponisten, die und/auch ein Opernhaus leiteten, waren Rolf Liebermann (in Hamburg, Paris und nochmals Hamburg), Udo Zimmermann (in Leipzig und Berlin, aber da komponierte er kaum noch) und Peter Ruzicka (nochmals in Hamburg). Siegfried Matthus schaffte es immerhin, sich ein brandenburgisches Miniimperium in Rheinsberg aufzubauen. Heute dürfte damit eine Einwicklung an ihr Ende gekommen sein, die Intendantenaufgaben haben sich immer mehr auf die nichtkünstlerischen Managementfelder verlagert. Früher hingegen waren dirigierende oder komponierende Intendanten gar nicht so selten, obwohl, man war ja schließlich auch im Theater bei Hofe, sie zusätzlich von Adel zu sein hatten, so wie im Fall des Clemens von Franckenstein (1875-1942).
Der, mit vollem Namen Clemens Erwein Heinrich Karl Bonaventura Freiherr von und zu Franckenstein, naturalisiert in Franken und Wien, war ab 1912 bis 1918 letzter Generalintendant des königlich bayerischen Hof- und Nationaltheaters in München, musste dann aufgrund seiner privilegierten Herkunft in der Räterepublik gehen, kehrte aber nochmals von 1912 übernahm Franckenstein die Leitung der Münchner Hofoper und war 1914–1918 Generalintendant. 1924–34 kehrte er nochmals in gleicher Funktion an die nunmehrige Bayerischen Staatsoper zurück, „erfand“ die Münchner Opernfestspiele und wurde dann selbstredend, weil ihrer Ideologie fremd, von den Nazis entfernt. Vermutlich hatte ihn trotzdem sein GMD Hans Knappersbusch gedrängt, kurz vorher den infamen „Protests der Richard-Wagner-Stadt München gegen Thomas Manns ,Leiden und Größe Richard Wagners‘“ mitzuunterzeichnen.
Franckenstein komponierte neben diversen Orchesterstücken fünf Bühnenwerke: „Griseldis“ (1898), „Fortunatus“, „Rahab“ (1909), für Grete Wiesenthal die Pantomime „Die Biene“ (1916) und 1920 für Hamburg „Li-Tai-Pe (Des Kaisers Dichter)“ sein erfolgreichstes Stück auf ein Libretto des damaligen Modeschriftstellers Rudolf Lothar. Nach dem zweiten Weltkrieg geriet dieser hübsch tönende Spätromantiker in totale Vergessenheit, wie so viele. Doch jetzt hat die Oper Bonn im Rahmen ihres verdienstvoll mehrjährigen Projekts „Fokus 33“, das bekannte Werke des ersten Jahrhundertdrittels mit aus dem Fokus gerutschten gegenüberstellt, auf „Li-Tai-Pe“ neuerlich das Premierenlicht ausgerichtet.
Und auch dieser etwas über zweistündige Dreiakter erwies sich als reizvolle Entdeckung. Parabelhaft schlicht kommt die Geschichte daher, der damaligen exotischen Chinoiserie -Mode folgend, irgendwo zwischen „Das Lied von der Erde“ und der vorauszuahnenden „Turandot“ von 1926, die freilich von ungleich gewichtigerer, die Moderne amalgamierender musikalischer Potenz ist.
„Li-Tai-Pe“ erzählt von einem beim Volk beliebten Dichter, der wirklich im 8. Jahrhundert gelebt hat und den auch später Hesse und Klabund schätzten. Auch Hans Bethges „Chinesische Flöte“, die Vorlage für Mahlers „Lied von der Erde“, nutzte Li-Tai-Pe Vorlagen. Seine Inspiration soll Pe freilich vor allem dem Alkohol verdankt haben. Das Opernabbild ist da tugendsamer… Seine Gedichte gefallen dem Kaiser so gut, dass er ihn bittet, für ihn auf Brautschau zu gehen, um die Erwählte heimzuführen. Li-Tai-Pes eifersüchtige Freundin Yang-Gui-Fe kommt als Page verkleidet (die übliche Opernunglaubwürdigkeit) mit. Die ebenfalls eifersüchtigen Minister verleumden währenddessen Li-Tai-Pe und dichten ihm eine Liebschaft mit der Prinzessin an, doch Yang-Gui-Fe enthüllt die Intrige. Der Kaiser kann heiraten, und Li-Tai-Pe endlich auch. Mit zwei glücklichen Paaren endet die einfache Fabel.
Die freilich sich musikalisch feinsinnig, maßvoll pentatonisch und nicht sehr fremdländisch tönend entfalten. Geschickt ist die Instrumentierung, alles diffundiert meist im Parlandofluss einer Strauss-ähnlichen Klangrede, Debussys Impressionismus scheint zudem wetterzuleuchten, die Anfänge von Jazz und Filmmusik machen sich bemerkbar, aber selbst Kirchentonarten klingen vehement. Li-Tai-Pes Preisgedicht für den Kaiser „In sanftem Leuchten blicken die Sterne“ ist natürlich der ariose Höhepunkt; auch pseudofolklorehafte Melodien sind verwoben.
Für die Inszenierung der aus heutiger Sicht eher wegen kultureller Aneignung und China-Klischees problematischen, ansonsten well-made Oper hat Bonn die Regisseurin Adriana Altaras verpflichtet, der es stets mehr um lebendiges Bühnen(er)eben denn um starre, gar widersinnige Konzepte geht. Und so liefert sie, begleitet vom bei diesen Unternehmungen Bonn-üblichen, hervorragenden Programmheftziegelstein fürs Bücherregal, vor allem gute Unterhaltung. Und die Klischees inszeniert sie in den flexiblen Bühnenbilder Christoph Schubigers und den changierenden Kostümen Nina Lepilina einfach offensiv mit, ja stellt sie sogar parodistisch aus, etwa in Gestalt von vier grotesken Mandarinen, die zudem als Umbaupausenfüllsel fungieren. Drei stumme Tai-Chi-Maskenträger beobachten zudem pittoresk das Geschehen, und ein Glücksdrachen schmachtet in einem Riesenvogelkäfig.
Ironisch übertrieben sind außerdem die stilisierten Bewegungen, das beginnt schon beim Auftakt zum ersten Akt im wogenden Chorgewusel einer von Trinkliedern wiederschallenden Garküche unter einer Autobrücke, hinter der sich die moderne Skyline einer seelenlos städtischen Riesenbaustelle erhebt. So mischen sich alte Bräuche mit moderner Weltsicht.
Freilich wird es stetig archaischer, mit einer hohen, rotstufigen Treppe und Kalligraphieprojektionen im Kaiserpalast, wo der Dichterwettstreit zwischen Hofschranzen und Li-Tai-Pe die Rätselszene aus „Turandot“ vorwegzunehmen scheint. Doch plötzlich taucht die pseudoparlamentarische Halle des Volkes im heutigen Peking auf. Die alte Exotismusvorlage ist also deutlich brüchig geworden. Auch wenn im dritten Akt sogar eine Mini-Dschunke und Lautenspiel vorkommen, alles in sanftem Dämmerlicht ausplätschert.
Mirko Roschkowski singt den Li-Tai-Pe in Mao-Blau tenorvollsaftig und trotzdem sensibel als seine Ruhe haben wollender Dichter, der sich freilich auch von seinem imperialen Auftrag gebauchpinselt fühlt. Joachim Goltz stellt den Kaiser Hüan-Tsung in besonders punkvoller Aufmachung und mit prachtvollem Bariton als Popanz aus, der trotzdem empathiefähig ist. Anna Princeva als Yang-Gui-Fe lässt ihre klare Stimme bereits im Gedicht vom einsamen Kormoran in schönstem Sopranlicht scheinen. Rollendeckend grotesk, skurril oder aufgeplustert: Giorgos Kanaris al Ho-Tschi-Tschang, Doktor der Kaiserlichen Akademie, Tobias Schabel als Erster Minister Yang-Kwei-Tschung und Johannes Mertes als Kommandant der Garden Kao-Li-Tse. Preziös gibt Ava Gsell die kaiserliche Braut Fei-Yen aus Korea.
Am Pult des Beethoven Orchester gelingt Hermes Helfricht eine flüssige Wiedergabe der selten spätromantisch auftrumpfenden, oft auch nur stimmungsvoll untermalenden Partitur mit ihren raren Inseln gesanglichen Überschwangs. Das alles bleibt zwar letztlich harmlos, man hätte auch bösartig sezierender eingreifen können, unterhält aber gerade als Erstbegegnung mit dem Stück durchaus.
WDR 3 sendet „Li-Tai-Pe“ am 19. Juni um 20:04 Uhr, Deutschlandfunk Kultur am 13. August um 19:04 Uhr