Wer Freiluftopernfestival meint, der muss auch Pferd sagen. Denn soviel Spektakel soll schon sein. Also stapfte der Schimmel Fripond brav dem Verdi-König Karl VII. und seinem von Kindern getragenen Hermelinornat hinterher, um bei Gang an der Rampe eine schöne, lange Reihe frisch dampfender Pferdeäpfelchen fallen zu lassen. Was zur Erheiterung des sowie schon gutgelaunten Publikum beitrug, weil nun auch der Aufkehrmann zum Einsatz kam.
Zum 17. Mal fanden die St. Galler Festspiele statt. Im Windschatten des übermächtigen Bregenz kann man natürlich nicht noch mehr klotzen, denn mit Seebühne und 7000 Zuschauern in fast 30 Aufführungen ist nicht zu konkurrieren. Aber in der sowieso trotz des Klimas Open-Air-süchtigen Schweiz ist man dank seines romantisch-atmosphärischen, mit Unesco-Weltkulturerbe-Stempel versehenen Klosterhofs vor der zweitürmigen Barockkirche mit 1000 Zuschauern und sieben bis neun Vorstellungen auch recht gut aufgestellt. Zumal man sich hier – anders als beim Massenspektakel am Bodensee – auch immer wieder Opernraritäten outdoor leistet: ob Donizettis „Die Sintflut“, Puccinis „Edgar“, Massenets „Le Cid“, Verdis „Attila“ oder „I Lombardi alla prima crociata“, Catalanis „Loreley“ oder Franz Schmidts „Notre Dame“, die – gern gewünschter Nebeneffekt – natürlich auch einen Bezug zur Ostfassade von St. Gallus und Ottmar aufweist.
Für diesen Sommer hatte St. Gallens neuer Operndirektor Jan Henric Bogen eigentlich erstmals eine russische Oper vorgesehen, Peter Tschaikowskys „Die Jungfrau von Orléans“. Doch die wurde im April gegen Verdis „Giovanna d’Arco“ (hier schon 2008 gegeben) ersetzt, die den gleichen Stoff behandelt. Der Grund: Angesichts des russischen Krieges gegen die Ukraine und der eben entdeckten Massaker von Butscha wollte man nicht fast zwei Probenmonate auf Kirchengrund die Einwohner der Umgebung mit russischer Kriegsmusik beschallen. Zu unabwägbar erschien den Verantwortlichen angesichts einer so populären Veranstaltung versus Weltpolitik das Festhalten an Tschaikowsky.
Heute könnte man das gelassener sehen, aber hinterher ist man immer schlauer. Damals gab es natürlich viele negative Schlagzeilen, doch werden hier weder Russen gecancelt, noch hat man den schon lange toten Tschaikowsky in Geiselhaft genommen. In den zu den Festspielen gehörenden Konzertprogrammen finden sich nach wie vor der ursprünglich geplante Festgottesdienst mit einer Messe von Alexander Gretschaninow sowie russische Orgelmusik – auch von Tschaikowsky. Nur draußen wollte man halt etwas sensibler sein.
So hieß es also umplanen, auch für die Regisseurin Barbora Hórakóva Joly, die in St. Gallen in einer Reihe ambitionierter Inszenatoren wie Carlos Wagner, David Alden Inga Levant, Stefano Poda oder Tobias Kratzer steht. Das Bühnenbild von Susanne Gschwender, Kirchenruinen und ein Gerüst mit Neonkreuzen auf feuchtem Grund, die alle schon viele Kriegsjahre gesehen haben, blieb; die meist zeitlos-abstrakten Kostüme von Annemaria Bulla wurden zumindest im Prolog noch der aktuellen Flüchtlingssituation angepasst.
So entstand eine großflächig breitgepinselte Inszenierung, die aktivistisch authentisch die Weltlage anklagt, aber den historischen Stoff nicht aus dem Deuterauge verliert. Die Kathedrale spielt nur mit, mal lila, mal weiß angestrahlt, in der Krönungsszene zu Reims und bei der Verklärung der hier – im Gegensatz zur Historie – wie bei Schiller in der Schlacht gefallenen Jeanne. Und Hórakóva Joly macht von Anfang an deutlich, um was es geht: um die Lehren für das Jetzt und heute. Das zeigen schon die Kinderbuggies, die der Chor auf die Szene fährt und aus denen anklagend blutigrote Strampelanzüge gezogen werden. Im Spiel der Mächtigen muss halt am Ende immer wieder das Volk bezahlen.
Tschaikowskys opulente russische Grand Opéra für einen Mezzo in der Titelrolle entfaltet sich als großes Panorama, mit durchaus auch nationalistischen Untertönen. Zudem war es nach dem Krieg in der UdSSR gern als Propaganda-Oper zur Feier des sowjetischen Sieges missbraucht worden. So wie auch der junge Verdi in seiner zwei Stunden knappen, 1845 uraufgeführten Oper natürlich in den Schlacht- wie Militärszenen patriotisch an ein Italien im Risorgimento-Rausch erinnert. Einmal enthüllt das Volk das Transparent „tutti per la patria“. Kurz vor dem Finale hängt am Gerüst ein Banner, auf dem zu lesen steht: „Idealismus ist reaktionär (durchgestrichen) – gefährlich (durchgestrichen) – tödlich“. Und am Ende kommen Frauen und Männer mit Schildern, auf denen steht, was sie kürzlich alles Gutes getan haben.
Und dazwischen entfaltet sich die krude, melodiensatte Magie des „Galeerenjahre“-Verdis. „Giovanna d’Arco“ ist wahrlich kein gutes, oft triviales, plattes Stück, die gute Jeanne, der fanatische Vater Giacomo, der in sie verliebte, passive König, und die politisch wendischen Franzosen wie Engländer – mehr ist da nicht. Das Originellste freilich, die Teufelchen und Dämonen, die Johanna immer wieder walzertanzend zum Harmonium klangpiksen und die man hier, gemäß den alten Jesuitenspielen, wunderbar als kaspererlegrelles Höllenzeugs über den Klosterplatz hätte tollen lassen können, die versagt sich die Regie.
Die kommen, wie auch der Kinderchor und der Prager Philharmonische Chor, nur aus dem Off der Tonhalle, woher auch der satte Sound des rhythmisch vitalen Sinfonieorchesters St. Gallen glasfaserkabelschnell übertragen wird. Während der temperamentvolle Chefdirigent Modestas Pitrenas zur Applausentgegennahme mit hohem Tempo auf dem City Scooter heranrollt.
Dafür lässt Barbora Hórakóva Joly weißgekleidete Frauen sich – als Kontrast zu den ungezügelten Männerbündeleien kriegsversehrter Militärs im englischen Lager mit Blut aus „No more war“-Kanistern übergießen. Krieg kennt keine Sieger. Johanna, die herbe, aufrechte, leuchtend schöne Ania Jeruc, hält vokal gekonnt die Waage zwischen Idealismus und Fanatismus hat ein Kinderdouble, das grüne Bäume pflanzt, ihr Banner trägt, und am Ende mit Heiligenschein paradiert.
Karl VII., der baritonal klingende Tenor Mikheil Sheshaberidze, will die Krone gar nicht, fügt sich unwillig in seine Rolle, die als Kinderspielburg auf der Bühne gespiegelt wird. Und dazwischen irrlichtet immer wieder der fanatische, sein ihm fremd gewordenes Kind mal als fehlgeleitete Ketzerin verfluchende, mal als Heilige verklärende Vater, den Evez Abdulla mit etwas zu viel Vibrato-Wobble, aber vollstem Stimmeinsatz gibt. So geht der Untergang Johannas bereits von ihrer Familie aus.
Und in St Gallen sind eigentlich alle happy mit der neuen Giovanna statt der Orleanskaja dewa. Doch, wer weiß, in der Leitung hat man den Tschaikowsky-Titel noch nicht ganz abgeschrieben…