Liebeserklärung an das platte Land: Mit der internationalen Koproduktion „Vlaemsch (chez moi)“ verabschiedet sich Sidi Larbri Cherkaoui aus Flandern

Fotos: Filip van Roe

Was für ein opulent vielschichtiges Bühnenbild auf einer Tanzfläche! Alles Grau in Grau, so wie angeblich Flandern, das von seinem berühmtesten modernden Troubadour Jacques Brel vielfach besungene „Mijn platte land mijn Vlaanderland“. Natürlich wird später auch „Marieke Marieke“ intoniert – von drei Frauen a cappella und im Renaissance-Arrangement leicht verfremdet, aber trotzdem hier, in der prächtig renovierten Brüsseler KVS, der Koninklijke Vlaamse Schouwburg, natürlich sofort erkannt.

Links auf der Bühne, die wohl einen zweistöckigen Dachboden vorstellen soll, steht so etwas wie ein leeres Bücherregal, das sich später als aufgestockte Tische entpuppt. In der Mitte hinten thront vor einem riesigen Schrank in einem Himmelbett eine brummelnde Matrone. Oben sind Trommeln und eine Staffelei auszumachen. Überall sind Tauben und Hühner aus Polyester verteilt. Rechts ist ein großes Vanitas-Stillleben aus einem Folianten, Schädeln, Obst, Vasen und einer Kerze arrangiert. Später spielt die Statue eines treidelnden Bootsmanns in seinem mit Waren gefüllten Gefährt eine Rolle, sehr viele leere Bilderrahmen ebenfalls. Am Ende äst da ein Reh unter einem blühenden Bäumchen und ein echter, goldener Faun sitzt daneben während sich die alte Frau in dem Riesenbuch zur Ruhe gebettet hat.

Dieser Speicher von Stehengebliebenem, Aussortiertem, Vergessenem, von Klischees und Kitsch, es ist eine Assemblage aus alten und neuen, dabei, wie so oft bei ihm, sehr historisch anmutenden Werken von einem der berühmtesten Bildenden Künstler Belgiens: Hans Op de Beek. Der Flame hat sich kreativ mit drei anderen Landleuten zusammengetan, dem Antwerpener Designer Jan-Jan Van Essche, dem Lautenisten Floris De Rycker und seinem Ensemble Ratas del viejo Mundo, vor allem aber – als Initiator – mit dem flämisch-marokkanischen Choreografen Sidi Larbi Cherkaoui und seiner Company Eastman. Diesmal zwar in der KVS, aber unter dem Dach des Monnaie-Opernhauses als Leuchtturm der darstellerischen Künste des ganzen Landes.

Sidi Larbi Cherkaoui nämlich, auf dem Weg von nicht wirklich ergiebigen Jahren als Ballettchef des gebeutelten Ballet Vlaanderen in Antwerpen/Gent in die gleiche Position an das Grand Théâtre de Génève (wohin er seinem ehemaligen Intendanten Aviel Cahn folgt), er  verabschiedet sich vom vielsprachigen Belgien mit einer vielschichtigen Performance – über den Schmelztiegel, der die Identität nicht nur Flanderns, sondern gefährlicherweise der auseinanderstrebenden Nation überhaupt ausmacht.  

Beim Opera Ballet Vlaanderen war schon im Februar mit der Doppelvorstellung „Noetic/Le Sacre du printemps“ Schluss. Jetzt folgt der Abschied auf der großen Brüsseler Bühne: „Vlaemsch (chez moi)“, so heißt es gleich zweisprachig. „Flämisch“ verweist aber dann nicht auf ein vereinnahmendes „uns“, sondern auf das individualistische „mir“ des Künstlers. Es ist also eher eine persönliche Seelenreise, als eine allgemeine Befindlichkeitsanalyse. Und insofern wohl auch bei den Koproduzenten, dem Festspielhaus St. Pölten, dem Pariser Théâtre National de Chaillot, dem Lodnoner Sadler’s Wells, dem Théâtre National de Bretagne und dem Grand Théâtre de la ville de Luxembourg, verstehbar.

Der 46-jährige Cherkaoui, Sohn eines marokkanischen Vaters und einer flämischen Mutter, ist in den vergangenen 20 Jahren mit vielfältigsten eigenen Produktionen um die Welt gereist, mit chinesischen Shaolin-Mönchen, mit Tango- und Flamenco-Tänzern, mit Manga-Künstlern. Oder er, der einst von Michael Jacksons Moon Walk zum Tanz verführt wurde, hat sogar für Popstars wie Beyoncé Knowles oder Alanis Morissette choreografiert. Die vielen Begegnungen auf diesen Trips beeinflussten seine Sicht auf die Welt und seine Arbeit. Kunst macht nicht an Grenzen halt. Was bedeutet es also, fragte sich der Choreograf in den letzten Jahren immer beharrlicher, ein flämischer Künstler zu sein?

Inhaltlich werden eher platt und sehr woke die erwartbaren Themen abgehandelt: Der flämische Nationalismus, die unterdrückten Frauen, die soziale Gleichgültigkeit, Mythen und Eigenheiten, die kulturelle Aneignung, die geschmähten Minderheiten (hier in Gestalt einer farbigen Transfrau). Wie überhaupt bei Cherkaoui das polyglotte Ensemble sehr divers ist, zu den sechs Musikern kommen 13 Performer hinzu. Und natürlich spiegelt sich das alles im großen, goldenen Zeitalter dieser Landschaft: dem Barock mit seinen weltberühmten Malern – alles weiße, heterosexuelle Cis-Männer. Die freilich Teil einer Handelsnation waren, die nach ganz Europa ausstrahlte, beispielsweise im Florenz der Medici eine nicht unwichtige Rolle spielte. So gelangte – neben dem Louvre – auch die einzige Michelangelo-Skulptur im nördlichen Europa nach Brügge.

Die flämischen Maler begrenzten ihre Weltsicht durch ihre Leinwände. Heute steigen die Akteure durch leere Bilderrahmen, halten sie sich vors Gesicht, fügen sie zur Revuereihe und spielen mit den Versatzstücken der historischen Stillleben wie Historienmalereien. Ein Christus steht als Säulenheiliger herum, so manche barocke Robe bauscht sich, Rubens höchstselbst nimmt Maß, Bruegels tolle Grete ist auch da. Und eine Fremdenführerin rattert Statistiken herunter.

Cherkaoui baut fließend komplexe Arrangement, lässt die mit locker gefügten Reigen sich wieder aufheben. Und immer ist der Pinsel der Wegweiser, Farbtöpfe werden gereicht, am Ende sind auch die elegant-schönen Kostümen Van Essches grau bekleckert. Das ist mit seinen 95 Minuten Spielzeit mehr Tanztheater als reine Choreografie, geht Richtung Gesamtkunstwerk mit seinem Sprechanteilen und vielen berückenden Musikmomenten, wo auch mal alles stillsteht. Und man – verzaubert von der herrlichen Stimmverstrickung – den zu Recht gerühmten flandrischen Musikmeister der Mehrstimmigkeit zuhört, die zunächst aus einem Bibliothekserker rechts oben erklingen, sie aber nach und nach ebenfalls die ganze Bühne erobern. Und die sich mischen mit der flämischen Nationalhymne oder den Chansons von Wannes Van de Velde, alle auf alte Art gesetzt; freilich abgemischt mit dem schwebenden Sound asiatischer Klangschalen.

Dieser Blick von vier zeitgenössischen „flämischen Meistern“ in den Spiegel des fernen 15. Jahrhunderts, gebrochen mit dem Heute, wird nie aggressiv-aktivistisch mit einem Lächeln als fluid-opulente Tableaux serviert. Der sanfte Sidi Larbi Cherkaoui sagt mit diesem ersten Teil eines neuen Diptychons liebenswürdig Adieu, so wie es seine Art ist. Den natürlich versteht er sich nicht als identitärer Flame, sondern als Weltbürger: „Ich habe einfach das Gefühl, dass es wichtig ist, zu vielen Dingen gehören zu können und nicht nur zu einer Sache, was leider ausgeprägt ist als das, was die Welt jetzt von uns will.“

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