Die exemplarische Geschichte einer Ausgrenzung: Robert Carsen lässt in seiner starken Scala-Inszenierung Peter Grimes nie aus dem Gerichtssaal

Fotos: Brescia e Amisano

Ein schmutzweißer, gänzlich nüchterner Saal, halbhoch getäfelt mit einfacher Empore. Bänke, Tische eine Gerichtsschranke, die auch als Boot und schließlich Sarg dient – mehr braucht Robert Carsen nicht, um – erstaunlich spät in seiner langen Opernregiekarriere – den für ihn so perfekt passenden „Peter Grimes“ an der Mailänder Scala zu inszenieren.

Wer einmal in Aldeburgh, dem gräulich geduckten Fischerflecken an der Küste von Suffolk am Kieselstrand stand, der weiß, was der dort geborene Benjamin Britten in seinem „Peter Grimes“ komponierte, insbesondere in den sechs „Sea Interludes“: kalte Sonne über flach glitzernden Wellen, peitschende Wogen und Winde, Nebel, Regen. Natur spielt hier eine der Hauptrollen. Was nicht heißt, dass in dieser ausweglosen Geschichte, wo ein Unangepasster, ein grober Klotz, sich gegen die nur in der Masse starke Dorfgemeinschaft behaupten muss, detailpusseliger Realismus mit Fischernetz und Ölzeug angesagt ist.

Gideon Daveys simples Set, auch die funktionsreduzierten, meist dunklen Kostüme, zwischen denen Ellens brauner Mantel schon eine Farbsensation ist, sind von ihm; Peter Van Praets und Carsens bewährt lebendig-sprechendes Licht; die wenigen Videos von Will Duke; die organisch verwobenen Choreografie von Rebecca Howell – die Beiträge der  bewährten Carsen-Mannschaft schaffen eine bewegte, minimalistisch einprägsame Produktion, die fließend aus dem Gerichtssaal an den Hafen, in die Kneipe, vor die Kirche wechselt. Für Peters enge Hütte rollt lediglich die hintere Wand gen Rampe. Da fahren Neonröhren rauf und runter, die Uhr wird durch die Dartscheibe ersetzt, hinter der Tür liegt der Betsaal. Die Bänke stehen für Ordnung wie Chaos, denn dauernd ändert sich das Bild und bleibt doch stoisch gleich.

Hier ist im strengen, auf Emotion und Motion reduzierten wie konzentrierten Einheitsbild alles ein wenig anders als sonst. Das Meer, so wichtig und präsent in den von Simone Young etwas arg bräsig mit breitem Klangpinsel ausgemalten Zwischenspielen, es kommt nur als gischtenden Videosee im letzten Bild vor – und trotzdem wird die Geschichte des Peter Grimes so direkt und stringent erzählt wie selten. Und am Ende steht er – längst tot – doch als Memento wieder im Gerichtssaal, die Eideshand auf der Bibel. Als Erinnerung, wie sehr der Mensch des Menschen Wolf ist.

Brutal und anonym ist agiert die Menge von Alberto Malazzis machtvoll singendem Chor, aus dem die hervorragend besetzten individuellen Rollen immer wieder hervortreten und zwischen der auch am Ende unerkannt Grimes steht. Den singt Brandon Jovanovich als finsteren Schmerzensmann schuldig und brutal, weich und klobig. Manchmal wird die Höhe dünn, doch insgesamt eine tolle Leistung. Ihm steht die herbe, unentschieden angerührte Ellen der temperamentstarken, aber auch fein fokussierten Nicole Car in nichts nach. Die Lehrerin leidet gar nicht still, zieht Grimes aus der Schusslinie, retten kann und will sie ihn nicht. Noch eine weitere, gar nicht auserzählte Tragödie.

Wunderbar klar sind die Nebenfiguren modelliert, die alle nichts Böses wollen, aber doch den Strick um den Hals von Peter Grimes immer fester zuziehen. Jede(r) von denen fungiert als ein böse funkelndes Einzelteilchen in einem sinister schillernden Mosaik aus Gerüchten und Gerede. Olafur Sigurdarson ist ein grober, doch hilfsbereiter Captain Balstrode, Peter Rose ein bassharter Swallow, Natascha Petrinsky eine gellend-nervige Mrs. Sedley, Benjamin Hullet ein nervöser Pfarrer. Margaret Plummer, Katarina Galka, Tineke van Ingelgem sind so vulgär wie vergnüglich als käufliches Kneipeninventar.

In seinem immerhin schon fünften Auftreten an der Mailänder Scala wird „Peter Grimes“ zu einem packenden Alptraumspiel, wo man eigentlich nie weiß, was hier wirklich konkret geschieht und was nur Traumbild ist, wo die Wünsche, Begierden, Fantasien der Beteiligten wundersam in der Schwebe bleiben, sich aber trotzdem manifest visualisieren.

Ist Peter Grimes, der außenseiterische Fischer in dem namenlosen Küstendorf, dessen Lehrbuben immer wieder auf seltsame Weise ums Leben kommen, wohlmöglich schwul? Man weiß es nicht. Bei Carsen schwingt es nicht einmal als Unterton mit. Ihm geht es um das direkte, schnörkellose Vorzeigen einer Ausgrenzung und wohin diese führt, wie sich kollektive Kräfte barbarisch Bahn schaffen. Gerade in diesen Tagen außerhalb des Opernhauses besonders evident.

Und gerade deshalb auch wühlt auch Simone Youngs vor allem satter, voller, dramatisch aufgeladener, selten durchsichtig kristallinen Klangdeutung so auf. Wir werden hineingerissen in einen Musikstrudel, der Grimes und uns immer weiterreißt – bis dieser als letzte Konsequenz sich auf Meer hinaustreiben lässt.

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