Wohltönende Mischung aus Film Noir und Mistery Thriller: „Die Frau ohne Schatten“ erstmals an der Opéra de Lyon

Fotos: Bertrand Stofleth/Opéra de Lyon

Szenen einer Geister-Mensch-Ehe. Sie steht frustriert im weißen Pyjama in ihrem schicken Badezimmer und ritzt sich die Arme. Er wischt später stoisch hinter ihr das Blut auf. Null Kommunikation, kein Versuch eines Liebesbeweises. Nur einsam nebeneinander herlaufende Aktion. Dazu gibt es merkwürdige Ambient-Geräusche und weibliches Stöhnen. Dann erst setzt das Orchester unter dem sorgfältigen Daniele Rustioni ein, sehr zurückhaltend, mit den drei bedrohlichen Keikobad-Akkorden, immer in stoischem Forte, so wie es in der Strauss-Partitur steht.

Abgesehen von der gern einmal zu führenden Diskussion, ob ganz aktuell sein wollende Opernregisseure in inzwischen geschätzt jeder dritten Inszenierung die Komposition noch vor dem ersten Stückton filmdramatisch spannungssteigernd akustisch anreichern müssen (hier passiert es nochmals, im dritten Akt, wenn die Kaiserin ihr werkentscheidendes „Ich will nicht“ spricht statt zu singen), an der Opéra de Lyon erweist sich die heute gern schief angesehene „Frau ohne Schatten“ eigentlich von Anfang an als intimes, psychologisch spannendes Werk – auch wenn man mit den misogyn-altbackenen Hymnen auf Eheglück, weibliche Gebärmaschinen-Erfüllung durch Kinder und was sich die konservativen Herren Strauss und Hofmannsthal da während des ersten Weltkriegs sonst noch so gesellschaftsgestrig zusammenreimten, nicht sonderlich viel anzufangen vermag.

Mariusz Treliński spielt ab dem ersten Takt (und eben noch davor) seine Regietugenden aus: Er erzählt nahe an den Figuren, er schafft Ambiente, er klärt die Handlung mit ihrer schwerfälligen wie schwülstigen Symbolik auf. Und er bleibt trotzdem dicht am Stück. Das ist auch notwendig, denn die 1917 in Wien uraufgeführte, monströse „Frau ohne Schatten“, die in Frankreich bis 1967 in Straßburg auf ihre Erstaufführung warten musste, war auch in Lyon noch nie zu sehen.

Und weil hier der Orchestergraben begrenzt ist, sitzen statt 120 nur 80 Musiker darin. Der Schott Verlag hat eigens eine reduzierte Fassung herausgebracht, die zarter, durchsichtiger, menschlicher klingt, ohne auf die raffinierte Farbigkeit und die komplexe Instrumentierungsstruktur zu verzichten. Die sanktionierten Karl-Böhm-Kürzungen plus einige wieder offene Striche zwingt niemanden zum Forcieren. Die absurd schweren Rollen sind so einigermaßen bewältigbar, und ein neugieriges Publikum lauscht über drei Stunden reiner Spieldauer höchst interessiert.

Daniele Rustioni lässt den ersten Akt zunächst auf kleiner Esoterikflamme kochen. Das Lyoneser Opernorchester macht sich vor der größten Partitur der Operngeschichte mit vielfältigem Schlagwerk, geteilten Streichern, zwei Celestas und Glasharmonika souverän klein. Aber nicht für lange. Immer mehr ereignet sich auch gut dossiertes Schwelgen und Stampfen, simple Dur-Melodien wechseln sich ab mit intrikat ausgekosteter Polyphonie in stetig entfernteren Tonarten. Raffinierte Reibungen kitzeln das Gehör, gelenkte Tutti-Explosionen und hauchzarte Cello- wie Geigensoli. Ja sogar der ewige Strauss-Rivale Franz Lehár irrlichtet plötzlich mit Walzerahnungen durch Keikobads Geisterbahn.

Selbst die Gesänge der Ungeborenen werden so ertragbar. Der Libretto-Schmock bekommt einen erzählbaren Kick. Und man versöhnt sich als guilty pleasure mit einem inhaltlich heute kaum mehr spielbaren, aber anregend polystilistisch klangmodernen Stück. Bei Rustioni hört man Strawinskys gehärtete Neoklassik durch, Bartóks rustikale Rhythmen, Hindemiths mürrische Sachlichkeit, Schrekers Sexualpathologie, Weills schrägschrille Holzbläser-Schlangenlinien, Bergs Dissonanz-Reibereien, Varèses Schlagwerkorgien, Schostakowitschs Blechbatterien, ja, und auch Mahler Weltabschiedsschmerz; koloriert ist das alles mit gar nicht schmierig schmelzigem Geigenzucker und generös serviertem, immer durchsichtig im Zaum gehaltenem Dur-Hymnen. Eine in jeder Hinsicht maßlose Oper, bei der sich das Orchester erst finden muss, dann aber mit Strauss-Feuereifer dabei ist.

Fabien Lédés Bühnenbild und Marek Adamskis Kostüme, sie schillern im flexibel-atmosphärischen Licht von Marc Heinz zunächst nur Schwarzweiß. Nach dem Badezimmer geht es in der rampennah gebauten Drehbühnenkonstruktion ins Art-Deko-Schlafzimmer der Kaiserin, dessen Wände bereits felsigsteinig sind. Hinten ist ein zweistöckiger Wintergarten mit üppigen Palmwedeln zu sehen. Der Geisterbote (rau: Julian Orlishausen) trägt ebenfalls ein verwittertes Gesicht, der Falke (Stimme: Giulia Scopelliti, auch Wächter der Schwelle) ist eine hysterisch flatternde Erscheinung (Natalia Bielecka), die möglicherweise später vom liebesbedürftigen Kaiser (nobel zurückhaltend, vorsichtig die fiesen Höhen ansingend: Vincent Wolfsteiner) im Knickerbocker-Jagdanzug vergewaltigt wird. Über alles lagern sich immer wieder suggestive Videos von Bartek Macias, sphärisches Rauschen, gurgelndes Wasser, auf zwei großen Spiegelscreens.

Die nächste offenbart sich bei einer weiteren Drehung hin zum Färberhaus. Das hat architektonisch die gleiche Anlage wie die Kaiservilla, doch ist das Bad ein Warenlage, wo die Färberin ihre brennende Hand auch mal im Klo löscht, die abgeranzte Wohnküche in Vintageleder- und Ziegeloptik ist nicht mal mehr shabby chic. Langsam wachsen die Steine und Palmen ins Zimmer. Hier haust der gemütvolle Kleinunternehmer Barak (ebenfalls von zurückhaltender, nie trotteliger Baritonwärme: Josef Wagner) mit seinen drei behinderten Brüdern im Blaumann (Robert Lewis – auch Erscheinung des Jünglings, Paweł Trojak, Pete Thanapat), für den das Höchste schon ein Pizzaessen mit Chipstüten ist.

Natürlich nicht für seine so ambitionierte wie frustrierte Frau: Ambur Braid, nicht mit der schönsten, aber einen höhenexpansiven, in allen Lagen souverän flutenden, harmonisch durchgebildeten Stimme ausgestattet, singspielt sie so anrührend nahbar wie selten. Das ist keine keifende Megäre, sondern eine allein gelassene Frau in Hot Pants, später im kurzen Kleid und Pelzjäckchen für deren massiv dargebotene Reize sich nicht einmal mehr in diesem Männerhaushalt jemand interessiert. Nur die tückisch-clevere Amme, hier eine schwarze Domina im Lulu-Look, die die junge Lindsay Ammann erstaunlich reif und vokal volltönend gestaltet, wenn auch noch nicht komplett als weiblich-schillernden Mephistopheles durchdringt, weiß, wie sie sie manipulieren und locken kann: mit Klamotten, einem schmalen Breakdance-Boy mit goldener Brust oder spooky uniformen, maskierten Kindern als ungeborene Untote.

Als attraktiv fesselnde Mischung aus Film Noir und Mystery Thriller läuft diese „Frau ohne Schatten sehr locker, unterhaltsam und mit vielen Populärzitaten dahin. Im dritten Akt hat sich der Bühnenaufbau für das Geisterreich aufgelöst. Man schreitet durch eine neonumrahmte Tür, steht zwischen gerasterten Wänden, auch die Palmen werden immer mehr. Schließlich liegt Keikobad als halbnackte Mumie auf einem Steinsockel, die schlanke Felsnadel, die ihn schon vorher stoisch in der Höhe schwebend symbolisierte, bedrohlich über ihm.

Und selbst den grauenvoll-simplen C-Dur-Jubelschluss bekommt Mariusz Treliński mit Anstand auf die Drehbühne. Erst heiraten der wiederbelebte Kaiser und die Kaiserin, dann finden Barak und Färberin an einer Tafel zusammen. Alle, auch die Ungeborenen, bekommen Babypuppen, am Ende sitzt die Kaiserin trotzdem allein wieder auf ihrem Bett – neben so einem makabernen, im Halbdunkel arg leichenhaft wirkenden Dummie: Ihr Glück hat sie nicht wirklich gefunden.

Ein letztes Mal beweist Sara Jakubiak ihre ätherischen Qualitäten als Schauspielerin. Der Sängerin mag die hypertrophe Partie der Kaiserin ein Quäntchen zu hoch sein, sie umschifft das geschickt mit Engagement und warmfülligen Tönen in der Mittellage. Kaiserin-Färberin-Amme: In Lyon ist „Die Frau ohne Schatten“ wirklich ein packend-glaubwürdiges Drei-Frauen-Stück. Und im Wechsel weiblicher Sichtweisen und Handlungen, so wie sie hier interpretiert werden, weit moderner als ihre Schöpfer es wohl ahnen konnten.

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