Ein sensitives Dschungelbiest und ein Wagner-Käpt‘n Blaubär: Weiß Köln eigentlich, was es an seinem versatilen GMD François-Xavier Roth hat?

Fotos: Sandra Then

Das ist ja fast wie in den guten alten Zeiten! Der Chef steht an zwei aufeinanderfolgenden Abenden mit völlig unterschiedlichen Opern im Graben. Er ist zudem kein Kostverächter und deckt im Repertoire alles ab von „Salome“ bis zur „Großherzogin von Gerolstein“, von Wagner bis zu Uraufführungen und natürlich immer wieder den von ihm so geliebten Berlioz. Und könnte sich die Kölner Oper seine eigene, freie Truppe Les Siècles leisten, dann würden hier auch von der Barock-Rarität bis zum letzten Zeitgenossen-Heuler auf höchstem Spezialisten-Nievau die Premieren perlen.

Die Kölner können also richtig stolz sein, seit 2015 den heute 51-jährigen François-Xavier Roth ihren Generalmusikdirektor von Gürzenich bis Oper zu nennen. Doch selbst sie scheinen ihr Glück noch nicht so richtig bemerkt zu haben. Obwohl jetzt schon dessen Vorstellungen immer voll sind. Aber auch für den Rest der Republik gilt: Mögen andere GMD berühmter und glamouröser sein, kaum einer deckt so viele unterschiedliche Formen von Musiktheater auf ähnlich hohem Niveau ab, ist so innovativ und opernzugewandt wie der zarte Franzose. Und zudem liebt er das ewige Ausweichquartier Staatenhaus auf der Deutzer Rheinseite, wo sich man inzwischen souverän gelernt hat, aus den besonderen Qualitäten des Ortes etwas zu machen. Immer mehr Inszenierungen gehen klug auf dessen Möglichkeiten ein, loten Klang- wie Bildkonstruktionen aus, die anderswo gar nicht möglich wären.

So wie jetzt etwa für die von Roth betriebene, vom neuen Intendanten Hein Mulders gern aufgenommene und mit einem Regisseur ergänzte Uraufführung „La Bête dans la Jungle“ des 1959 geborenen Boulez- wie Berio-Schülers Arnaud Petit. Die beruht bereits auf einer zehn Jahre alten Kammerversion, die jetzt szenisch entschieden ausgeweitet und aufgewertet wurde.

Man betritt den Saal 3, wo gegenwärtig die verdienstvolle Kinderoper ihr Domizil hat, und stößt auf eine offene Ellipse. An den beiden Längsseiten stehen sich ein paar gebogene Zuschauerreihen gegenüber, auf einer Schmalseite ist das üppige Orchester platziert, die andere ist offen. Völlig leer gähnt die weiträumige Szenenfläche, auf der auch später nur zwei Stühle, ein Tageslichtprojektor, zwei rollende semitransparente Wände zu sehen sein werden; sie weitet sich freilich auf den ganzen Restraum aus, dessen Vorhangbegrenzungen sepiabraune Fotos von englischen Landsitzen, Venedig, Neapel, Postkarten, einem Opernhaus, Straßen und einem Friedhof zeigen.

Das alles ist nur verschwommen und fragmentarisch zu sehen, so wie auch das Geschehen uns vom gleichzeitig als Regisseur fungierenden Erzähler Frederic Wake-Walker mitgeteilt und auf dem Projektor bildlich präsentiert wird. Das Dschungelbiest hat nämlich nichts mit Kipling, Disney und Kindern zu tun, es geht hier um eine der berühmtesten Novellen von Henry James – eine derer, die wohlmöglich nach dem Leben des notorisch beziehungslosen Schriftstellers gestaltet wurden. Auch seine Beziehung zu der durch Selbstmord in der Lagunenstadt endenden Schriftstellerin Constance Fenimore Wooson, spiegelt sich darin  wieder.

Erzählt wird von John, der nach vielen Jahren May wiedertrifft, der er damals schon erzählt hat, dass er sich jeden Tag davor fürchte, dass sein eigentlich gutes Leben ein Ende hat, weil endlich „das Biest aus dem Dschungel“ über ihn herfallen würde. Dieser imaginäre Schatten, hervorgerufen wohl durch seine Faszination für junge Männer, lässt ihn auch sein weiteres Leben an der Seite von May weder genießen noch vollziehen. Immer bleibt er angstvoll auf Distanz, und als May an einer schweren Krankheit stirbt, erkennt er erst über ihrem Grab, wie sehr er sich von seinen Ängsten hat leiten lassen, statt das Jetzt zu genießen. Und doch wartet er immer noch auf sein Unglück, dass ihn längst durch seine Passivität ereilt hat.

Ist das ein Opernstoff? Unbedingt! Weil hier, ähnlich wie in Benjamin Brittens James-Hit „The Turn oft he Screw“, Unsägliches Klang und Ton werden kann, das Zwischenreich der Seele eine Stimme und Ausdrucksnuancen bekommt. Fast somnambul schillert und schimmert die betören ungreifbare, mal atonale, dann wieder sehr harmonische Petit-Partitur über 90 Minuten dahin, wie in Variationen erklingt ein Kastagnetten-Motiv. Die Musik weitet das Denken, fokussiert aber gleichzeitig die Aufmerksamkeit, während die Regie nur sparsamste Andeutungen und Arrangements zulässt. Denn die Hauptsache spielt sich im weiten Land der Gefühle ab. In das wir zunächst wie durch einen Therapeuten von Wake-Walker wellnessmäßig durch Selbstloslassen bei gleichzeitiger Ich-Fokussierung eingeführt werden.

Der noble, freilich ebenso in seiner Zögerlichkeit anrührende Bariton Miljenko Turk und die dramatisch tolle, aber auch schmiegsam zarte Emily Hindrichs, die einfach nur pure, überhaupt nicht zeitgeistige Sopranhingabe ist, sie suchen und finden sich langsam, immer intensiver wird ihr Beziehungsgespinst. Er trägt grauen Rollkragenpullover, sie ein altmodisches Kleid (Kostüme, Bühne und Projektionen: Anna Jones) – und trotzdem überwinden sie die Zeit, steigt der Überlebende wieder ein in den Anfang der Geschichte. Den trägt der wie als Kabuki-Helferfigur schwarz gewandete Frederic Wake-Walker in schönstem Oxford-English zunächst als didaktischen Bericht vor; auch der Schritt zum Projektor verbindet sich sofort mit Lehrererinnerungen. Er arrangiert die Positionen und Versatzstücke, zieht sich aber bald zurück und lässt es laufen.

Das aus dem James-Text von 1903 destillierte Libretto von Jean Pavans ist in Französisch, ein weiterer Verfremdungseffekt. Doch trotz der Distanz fühlt man schnell mit diesem fatalen Paar, eine andere, noch traurigere Version von Tristan und Isolde; die wollten wenigstens zusammenkommen, John will es erst wirklich, als es viel zu spät ist. Bis dahin singt man endlos sich spinnenden Melodien und tanzt traurige Walzer vor La-Serenissima-Veduten – eine Hommage an die ähnliche Morbidezza der  acht Jahre später veröffentlichten Thomas-Mann-Novelle „Der Tod in Venedig“. So ergeht sich das Nicht-Paar in einem bürgerlich kultivierten Leben Seite an Seite – aber eben leider doch allein. In einem letzten Moment durch den Spiegel scheinen die Isolierten im Tanz vereint – dabei ist sie längst tot.

Die diskret elektronisch verstärkte und verfremdete Musik, die in der langen Post-impressionistisch freigeistigen Tradition von Poulenc, Messiaen, Dutillieux bis hin zu den Spektralisten zu orten ist, offenbart sich wie Mosaiksteinchen: ein großes Puzzle, in dem nicht mehr alle Teile vorhanden sind: das aber wird superb vom Gürzenich Orchester in seiner opaken Weichheit entfaltet, sehr elegant von dem ehemaligen Flötisten François-Xavier Roth gebündelt und zusammengehalten. Für die schwebenden Momente sorgen insbesondere Vibraphon und Glockenspiel. Eine Oper die direkt, zu den Gefühlen spricht, die gerade trotz ihrer Sprödigkeit von einer reizvollen Intensität ist. Und die in einem instrumentalen Epilog verspricht: „Im Verschlingen durch das Biest werden May und John vereinigt.“ Das Publikum war begeistert.

So wie auch tags darauf von Roths Leistung im „Fliegenden Holländer“, der vor zwei Wochen Premiere hatte. Auch hier frappiert zunächst die für die im Ende doch brave Inszenierung von Benjamin Lazar gefundene Bildlösung von Ausstatterin Adeline Caron. Die stellt auf die überbreite Staatenhausbühne eine Art stilisiert nüchternes Containerschiff, auf dem sie alle wohnen: Daland und seine Mannen, der Holländer mit seiner Geistermannschaft, Senta, Frau Mary und die Frauen. Hinten wallen beleuchtete Vorhänge Meer, Wolken, Rauch. Und mittendrin, wie im Laderaum, klanglich überwölbt vom Spieldeck sind das wohltönende, romantisch bewegliche, rhythmisch flexible Orchester und Roth platziert.

Fotos: Karl und Monica Forster

Doch zunächst ist es still, Senta kommt herein, immer noch lebend. Sie will sich erinnern, wer sie war, und wo sie herkommt – die Ouvertüre gischtet los. Und es wird auch bis zum Ende, die Wagner-Partitur sein, die an diesem Opernabend am meisten fasziniert. Weil François-Xavier Roth diese Musik leicht und wuchtig zugleich dirigiert, graziös, senza Vibrato in den Streichern und mit Spannkraft. Schön näseln die Holzbläser, ganz nach französischer Art. Immer wieder scheint die deutsche Spieloper als Variante der opéra comique durch das Düsterdrama, selbst die Gespensterchöre wirkten gruselig vergnügt. Es fehlt die Schwere, die spätromantische Klangverblendung des späten Wagners. Alles ist hier gelenkig, strukturiert, präzise tonverbunden.

Karl-Heinz Lehner ist ein gelassen-schlichter Daland, schön rund im Basston. Der biedere Holländer von Joachim Goltz, nur wenig dunkler sein Baritontimbre, könnte fast dessen Zwillingsbruder sein. Und beide scheinen sie mehr mit Käpt’n Blaubär gemein zu haben als mit sinisterem Geisteropernpersonal. Handfest, nur in der Höhe schrill singt Kristiane Kaiser die Senta. Die hat die blauen Hosen an, die braucht eigentlich gar keinen Kerl, zumindest keinen so tenorverquakten wie den ordentlichen Maximilian Schmitt als sie vergeblich liebender Jäger Erik. Dalia Schaechter arbeitet als gebieterische Mary inzwischen mehr mit Aura als mit Altstimme. Gefällig der Steuermann von Dimitry Ivanchey. Machtvoll wie das Orchesterklangmeer: der jedem Gewitter und Sturm volltönend trotzende Chor (einstudiert von Rustan Samedow).

Benjamin Lazar hat wenig aufregende Ideen, arrangiert lieber. Zum Beispiel die Holzpuppe unter einer Plane, die die Frauen im zweiten Akt zusammenbauen und bekleiden. Die steht dann später hinter einem Holzhaufen und wird von Senta abgefackelt. Hier ist Schluss mit Selbstopfer für den Mann, die macht ab jetzt ihr eigenes Ding. Bis dahin aber spult sich dieser eigentlich atemlose Wagner lahm ab. Des Holländers Schätze sind Pistolen und automatische Waffen, mit denen wird posiert, zum Einsatz kommen sie nicht. Seltsam auch die passiv von den aggressiven Norwegern sich zusammenschlagen lassende Geistermannschaft, die zwar beim Abgang ins Irgendwohinten die Türen von rauchenden Alarmrot bemalten Containern aufreißt – aber Folgen hat das nicht. Dabei sitzen doch alle im selben, hier szenisch ein wenig dümpelnden Wagnerboot.

François-Xavier Roth wird in der nächsten Saison die Premieren von Zimmermanns „Soldaten“ und der Ondřej-Adámek-Novität „Ines“ dirigieren, dazu die Hänsel und Gretel“ und „Faust“-Wiederaufnahmen. Und dann folgt mit 2024/25 auch schon seine letzte Kölner Spielzeit; zehn Jahre wird Roth dann in der Domstadt als GMD verbracht haben. Genug Möglichkeiten also noch, nicht nur für die Kölner, seine universelle Opern- wie Konzertkompetenz zu genießen.

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