„Es werde Lichter“, sprach der Libretto-Dichter und ließ die Buffa-Puppen tanzen. Keine Charaktere, sondern Typen, irgendwie geboren im ganz normalen Uraufführungswahnsinn italienischer Opernhäuser im frühen 19. Jahrhundert; fest am Faden hängend und ganz nach Bedarf herumgeschoben von ihren Schöpfern. Dieser Poeta in Gioachino Rossinis „Türke in Italien“, der sich und seine Erfindungsnöte vorlaut zum Thema einer komischen Oper macht, ist ein ziemlich einmaliger Fall. Und deshalb immer öfter ein gefundenen Fressen als Alter Ergo für seine Regisseure.
Dabei hatte ihn in einer Zeit, die gern Theater auf dem Theater spielte, bereits der Mozart-Librettist Caterino Tommaso Mazzolà für das 18. Jahrhundert erfunden; Rossini recycelte bloß – wie so oft; das aber genial. Lange war die Oper vergessen, erst Maria Callas holte sie 1950 in Rom und 1955 an der Scala in einer berühmt gewordenen Zeffirelli-Inszenierung aus dem Ethnoschatten der „Italienerin in Algier“ heraus. In diesem „Türken“, der jetzt neuerlich und zum allerersten Mal seit der Uraufführung 1814 an der Opéra de Lyon auf dem weihnachtlichen Spielplan steht, hat das nimmersatte Superweib Fiorilla einen Mann und einen Geliebten namens Narcisso; der orientalische Potentat Selim verstärkt das mit allen Charaktereigenschaften der Opera Buffa ausgestattete amouröse Quartett.
Der Türke wiederum trifft auf seine bei fidelen, als reine Buffa-Versatzstücke behandelten „Zigeunern“ lebenden Ex-Maîtresse Zulma und entflammt neuerlich. Zwischendurch treibt dann der Dichter Prosdocimo sein pirandellohaftes Unwesen. Am Schluss steht Fiorilla von allen verlassen da, singt eine große Seria-Klage-Arie – und alles wird operngut. Ein herrliches Absurdistan, das es mit surrealem Leben zu füllen gilt.
Laurent Pelly, wie immer auch für die buntpassenden Kostüme verantwortlich, hat das 2023 in Madrid prima geschultert; jetzt ist die wunderbare Produktion nach Lyon weitergewandert, wo der Komödienspezialist seit Jahrzehnten eigentlich fest zum Weihnachtsspielplan dazugehört. Was anderswo „Hänsel und Gretel“ gesetzt sind, wurde an Rhone und Saône Pelly mit meist Offenbach oder Operette, dieses Jahr eben einem Rossini-Naschwerk zum feinen Festtage-Konfekt. Und gewohnt perfekt wie elegant lässt er den Mechanismus der Verwicklungen und Verwechslungen abschnurren. Da stimmt jeder Bewegungs- wie Beleuchtungsakzent, er weiß, wie er Räume und Personen nutzt, wohlgesetzt sind seine zeitlosen Pointen. In spritzigem Fluss merkt keiner, dass diese musikalisch hochwertige, auf ein Ensemble von Gleichen setzende, dabei auf jeden Arienhit verzichtende komische Oper ernsthafte drei Stunden dauert.
Das wunderbar wandlungsfähige Konzept: Die in ihrem tristen Ehealltag mit Garten pflegendem Gatten sich langweilende Vorstadtehefrau Fiorilla träumt sich in eine bunte Fotoromanze, so wie sie in den Fifties in Italien vielgelesen wurden, und sie etwa auch Federico Fellini in seinem frühen Film „Der weiße Scheich“ ausschlachtete. Die ebenfalls Pelly-bewährte Chantal Thomas hat deshalb einerseits zwei aus Großfotowänden zusammengezimmerte Häuser auf die Bühne gestellt, die Villa des vertrockneten Paares und daneben die verwahrlose Bude des Dichters, der seiner schüttereren Inspiration mithilfe der nachbarschaftlichen Umtriebe auf die Sprünge hilft, ja diese mit Intrigenfutter beschleunigt.
Die Häuser samt scharf beschnittener Hecken, vor den denen sich Zaida & Co als fahrendes Musikantenvolk in rosa Glitzeranzügen tummelt, sind schnell weggefahren. Dafür poppen immer wieder bühnengroß ganze Illustriertenseiten mit der amourösen Fotostory auf, wo freilich die bildlichen Stellen unter den Sprechblasen mit Operninhalten gefüllt werden müssen, oder Räume plötzlich dreidimensional werden. Der von Fiorilla erträumte Türke im weißen, sexy Orientalenoutfit hat einen wirkungsvollen Auftritt direkt aus dem XXL-Heftchen, zum turbulenten ersten Finale sind alle in einem explodierenden Rahmen eingepfercht.
Soziologische Diskurse zwischen eingewanderten Minderheiten interessieren Pelly nicht. Die Türken wie „Zigeuner“ sind hier nur Lachmittel zum Witzzweck. Die Regie gibt dem Komödien-Affen Zucker. Handwerklich höchst gekonnt. Da ist kein Gag zu alt, als dass er nicht mit Finesse serviert und laut belacht wird. Der sich gehenlassende, schmuddelhaarige Dichter im Trainingsanzug und Bademantel (zum Leiden geboren und ebenfalls erstmals in Lyon: Florian Sempey mit gustiös baritonalem Embonpoint) muss sich von seinen aus dem Ruder laufenden Protagonisten verfolgen lassen, bevor er die verstrickten Handlungsfäden wird einigermaßen entflochten hat.
Vor allem der alte Ehemann Geronio (komödienroutinierer Buffobass: Renato Girolami) ist hier dauernd das durch die Decke gehende HB-Männchen. Sein Antipode Selim (beweglich: Adrian Sâmpetrean) gibt den mit nackter Brust prunkenden türkischen Papagallo. Doch ein Clash der Kulturen findet nicht statt. Ach nicht mit der munteren Zaida (Jenny Anne Flory) und deren Anhängsel Albazar (Filipp Varik) Am Ende sind sich alle wieder gut, war es doch nur ein Spaß auf Rossini-Erden mit erst offenen, dann wieder irgendwie geschlossenen Zweierbeziehungen.
Hinter Fiorilla tänzelt ja zudem noch mit leichter, falsettabgemischter Höhe bis zum dreigestrichenen F und erfolgreich gegen die rote Perücke singend der Tenorschnuckel Alsdair Kent als Galan mit dem sprechenden Namen Don Narciso einher. Die launische Herzensdame, Maria Callas und auch Cecilia Bartoli haben das eindrucksvoll bewiesen – aber steht im Zentrum jedes „Türken“. Sie gibt das Tempo vor, führt die meisten Ensembles an, ver- und entliebt sich. Eine Tigerin mit Schlangenbiss, dann wieder katzenverschnurrt. Die aufstrebende katalanische Koloraturspezialistin Sara Blanch, schon bei der Teatro-Real-Premiere für die erkrankte Lisette Oropesa eingesprungen, schmeißt aber nicht nur den Buffa-Laden, die entwickelt ganz viel vokale Eigenpotenz, tänzelt lächelnd auf dem Koloraturenseil und wirft nur so mit höhenstarkem Brillanttonfeuerwerk um sich.
Sie ist der Gipfel des Vergnügens, das könnerisch mit viel trocken crescendierendem Rossini-Drive auch im Orchestergraben von Giacomo Sagripanti entfesselt wird. Ihm gelingt ein phantasievoller, mit viel Willen zum zirzensisch aufgezwirbelten Klangvergnügen prunkender „Turco“, wo die Rouladen rollen und die Fortissimi knattern, wo das Horn goldglänzt, die Trompete staccatostrahlt und die Holzbläser schnattern. Genialisch auf dem Komponistenreißbrett erdachte Spaßmechanik wird in Lyon liebenswürdig Opernwirklichkeit, kommt in schöner Detailfülle akustisch wie optisch zur gewollten Vollendung.