Ein Händel-Frühwerk als emotional Achterbahn fahrender Corona-Diskurs: „Trionfo. Vier letzte Nächte“ berührt in Hannover

Fotos: Sandra Then

Der junge Händel in Italien, bei den römischen Kardinälen, das war doch so einer, da sind doch so Sachen passiert . . . Der spätpubertierende Georg Friedrich als männliches Komponistenluder auf dem Barockhühnerhof, katholisch fremdgehend, wo er doch später so anglikanisch geworden ist? Das scheint dann doch wohl meistenteils nur Wunschdenken einer Zeit, die zunehmend dirty details über true stories stellt – zumal aus dem Künstlerleben.

Doch ein wenig wahr könnte es schon sein, hört man die kaum bekannten, freilich vor Sinnlichkeit überfließenden Kantaten und als Oratorien getarnten Opern dieses tonsetzerischen Frühlingserwachens. Zum Beispiel der 1707 im Palazzo Pamphili zu Rom uraufgeführte „Il Trionfo del Tempo e del Disinganno“. Das tugendsame Libretto zu diesem Sieg der Zeit und der Enttäuschung über Schönheit und Vergnügen schrieb zwar ein Kardinal, doch diente es dem aufstrebenden Tonkünstler vor allem als willkommene Gelegenheit für ein Feuerwerk von Arien, Lamenti und sogar ein eingeschobenes Orgelkonzert.

Ein philosophischer Argumentationsclinch der Allegorien: Il Piagiere (Sopran) verführt, Il Tempo (Tenor) und Il Disinganno (Alt) warnen – die Schönheit (Sopran) aber steht am Scheideweg. Ganz im Gegensatz zum frömmelnden Text, den im sinnenfrohen Rom der Kardinal Benedetto Pamphili als klerikaler Gönner für seine jüngste Komponisteneroberung schrieb, nutzt der 22-jährige, unter wohligem Italien-Schock stehende Georg Friedrich Händel den statischen Libretto-Vorwurf als Experimentierfeld kaum kanalisierter Gefühle: unter südlicher Sonne ausgebrütet, schlüpft hier bereits der vollgültige Opernkönner aus seinem ersten Oratorien-Ei.

Auch später kehrt il caro Sassone gerne zu seinem furiosen Jugendstreich „Il Trionfo del Tempo e del Disinganno“ zurück – nicht nur als großzügig genutzter Melodiensteinbruch. Die 1704 erstmals als Sarabande in der Hamburger Oper „Almira“ auftauchende Arie „Lascia la spina“ etwa, wird 1712 im „Rinaldo“ zu „Lascia ch’io piangia“ und als erster Händel-Hit London im Sturm erobern.

Im Juni konnte man dem schon beim Ravenna Festival, einer der der ersten italienischen Musiktrotzreaktionen gegen die Pandemie, begegnen. Dort führten es Ottavio Dantone und seine Accademia Bizantina komplett auf. Und jetzt hat das gute Stück auch die Staatsoper Hannover im Programm, freilich ganz neu: Wie schon in Amsterdam wurde vom teuflischen Cornora-Virus der Spielzeitauftakt mit Boitos „Mefistofele“ verhindert. Doch Laura Berman und ihre Truppe haben – wie schon beim atmosphärischen „Vin herbé“ Frank Martins als Sommerersatzprogramm in den Herrenhäuser Gärten – auch diesmal wieder gezaubert. „Trionfo“ wurde jetzt, sogar mit zusätzlichem Chor von draußen und Orchester auf der Bühne, mit nur vier auf Abstand bleibenden Solisten zu einem packenden, zeitgeistig passgenauen Diskursversuch über Vereinsamung und Empathie, über zusammenbrechende Lebensentwürfe und Neuanfänge.

Regisseurin Elisabeth Stöppler und ihr Dramaturg Martin Mutschler haben dabei zusammen mit dem Dirigenten David Bates das eigentlich chorlose Oratorium mit außer Arien nur einem Quartett und einem Duett in barocker Pasticcio-Manier als Steinbruch benutzt, umgestellt, umverteilt. Jetzt nennt es sich „Trionfo. Vier letzte Nächte“. Die Ouvertüre fällt weg, ebenfalls das Orgelkonzert als virtuose Einlage und die meisten Rezitative. Alles dient hier der neuen, strengen Aussage. Das funktioniert ganz wunderbar. Die alten Texte bekommen neuen Sinn und Tiefe, werden ergänzt durch fragende, sich tastende Monologe der Darsteller in Englisch, Italienisch, Holländisch und Zulu. So wird mühelos der Bogen ins Heute gespannt.

Am Anfang ist die Bühne von Valentin Köhler völlig leer, jede der vier Figuren stellt in einer Arie ihre Befindlichkeit aus. Hinter einem hochfahrenden Vorhang ist das relativ große Orchester sehr weit an der Rückseite des Raums platziert. Man hört es gut, es wirkt aber wie aus der Ferne, als sfumato-wattierter Klangweichzeichner; was dem Abend einen schwebenden, unwirklichen Status verleiht.

Von oben fahren vier Wohnungsinterieurs und Requisiten herunter, die alle am Faden hängen, auch von unten in einem engen Rahmen eingekastelt werden. Nebeneinander lebt man einsam aneinander vorbei. Links logiert der erfolglose Schriftseller D. (=Disinganno), der seine Manuskripte im leeren Kühlschrank stapelt und sich immer wieder umzubringen versucht; rechts der scheinbar angepasste Büromensch T. (=Tempo) mit seinem Motorrad, der nach und nach sein Transsein enthüllt, als Schwarzer einen weißen Brüste-BH anprobiert. Die Mitte ist den Damen vorbehalten, B. (=Bellezza), die mit ihrem Hausfrauendasein zwischen Kind und Kleidern nicht klarkommt und ihre Familie verlassen will; und P(=Piancere), ostentativ frohsinnig und doch unter dem Blondhaar die Glatze als Zeichen des unheilbaren Krebses herzeigend, bevor sie auf dem Krankenhausbett danieder sinkt.

Immer stärker verstricken sich die Schicksale, obwohl die Protagonisten scheinbar isoliert bleiben. Gegen Mitte der zwei Spielstunden treten sie aus ihrem Alltagstrott heraus, scheinen in einen von Neoninstallationen illuminierten Hades hinabzusteigen, wo sie in Glitzer- und Volantkostümen jenseits der Wirklichkeit und Wahrheit eine Traumexistenz führen wollen.

Sunnyboy Dladla (Tempo) beschwört mit kräftigem Tenor die Richtigkeit seines neugefundenen Transseins und scheint im gelben Fummel der Bayreuther Gateau Chocolad Konkurrenz zu machen. Nina van Essen (Piacere) ergreift in ihrer Krankheitsdepression, darf sich aber auch mit dem pianozarten „Lascia la spina“ oboenumwebt Trost zusingen. Nicholas Tamagna, jetzt im hellblauen Anzug, attackiert mit angriffslustiger Counterstimme seine Koloraturen. Die robuste Sopranistin Sarah Brady, in schwarzer Glitzerrobe über ihre Wäschespindel-Existenz erhoben, scheint die heimliche Hauptfigur. Hat sie sich am Ende, die Bühne ist wieder leer, die anderen sind weg, mit ihrer Babypuppe in ihr Schicksal ergeben? Oder ist da noch mehr? Der zusätzliche Fernwehchor aus Purcell Trauermusik für Queen Mary mag davon künden.

Händels Musik erhöht und vertieft sie alle, wieder einmal begeistert die Varianz seiner emotionalen Versenkung mit einfachsten Mitteln, die ihn so spielend über jeden Barockroutinier hinaushebt. Selbst in dieser jugendlichen Lockerungsübung, die sich ideal für solcherlei Adaption für einen sehr besonderen Spielzeitauftakt eignet. David Bates tut ihm trotz vieler Eingriffe keinen Zwang an, bleibt klanglich nah an den Sängern dran, lässt aber in den wenigen Zwischenspielen auch locker rhythmisierend die Kantilenen blühen.

Ein starker Abend, über vier Menschen an einem Wendepunkt, wenngleich die Regie noch einige Spannungslöcher der Personenführung stringenter und sinnfälliger füllen könnte. Klatschte deshalb das Publikum so permanent nach jedem Solo dazwischen? Man hätte doch schnell merken können, dass hier kein übliches Arienfeuerwerk abgebrannt wird… Obwohl das ursprüngliche Oratorium theatralisiert und trotzdem ernstgenommen wird: Der Triumph der Zeit und der Enttäuschung über die Schönheit und das Vergnügen ist auch in Hannover ein so frivoler wie moralischer Diskurs, der sich arios überhöht, wiederholt und variiert. Bis die Schönheit  – Moral muss sein, zumindest auf der Bühne – am Ende einlenkt und innere Wahrheiten über äußeren Schein zu stellen bereit scheint. Die Gefühle der Oratoriummusik aber wurden vorher zu emotionalen Räumen. Ganz konkret auf der Musiktheaterbühne.

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