Wie ein Phönix: zwei Spitzenchöre melden sich aus dem Corona-Exil zurück, in Berlin der RIAS Kammerchor, in London die ORA Singers

Nein, hier steigt nicht Conchita Wurst auf. Langsam, ganz langsam tasten sich zunächst die Damen des RIAS Kammerchors wieder zurück in die Berliner Philharmonie, nur zehn sind es zunächst. Ihren regelmäßigen Arbeitsplatz durften sie sechs Monaten lang nicht betreten. Sie gehörten zu den am meisten durch Corona ausgebremsten Kollektiven, galten als pariagleiche Superspreder. Daran hat sich nichts geändert, doch mit viel Sicherheitsabstand durften sie jetzt endlich wieder auftreten. Obwohl das erste Post-Lockdown-Konzert des RIAS Kammerchors, Berlins Singjuwel, im Rahmen des arg kastrierten Musikfests lange auf der Kippe stand und bis zuletzt das Programm geändert und angepasst werden musste.

Doch Chorleiter Justin Doyle hat ganze Arbeit geleistet: Eine Stunde lang delektieren sich die versprengten, aber entzückten Vokalfans an einem klanglich krassen Schnelldurchlauf vom Mittelalter bis zum Barock. Ohne an Tröpfcheninfektionen und Aerosolverwehungen zu denken, wurde anspielungsreich an den Metallvogel auf der Philharmoniespitze erinnert: „Chorrenaissance – wie ein Phönix …“. Renaissance einmal mehr als Wiedergeburt.

Der weit aufgefächerte weibliche Zehnerblock, wie immer in Schwarz gekleidet, begann einstimmig mit Hildegard von Bingens nachdenklichem „O Virtutis Sapientia“ – „O Kraft der Weisheit“; das kann als sehr vielseitiger Kommentar zum Zeitgeschehen aufgefasst werden. Das weitete sich über kurze Sätze von Orlando di Lasso, Gilles Binchois, William Byrd, Palestrina, Gesualdo, John Sheppard, Tomás Luis de Victoria bis zur Bach-Motette „Unser Leben ist ein Schatten“ und zum sechszehnstimmigen „Crucificus“-Satz Antonio Caldaras.

Im zweiten Stück kamen einige Männer hinzu, im dritten wechselte man sich ab, ab dem lichten „Sanctus“ von Byrd mischten sich die Stimmen aller 34 Chormitglieder. Die zum Glück nichts von ihrer Brillanz, Versenkung, ihrem zarten Verschmelzungsgrad und ihrer vollkommenen Balance verloren haben.

Dazwischen improvisierte der Organist Martin Baker aus der Westminster Cathedral mal zart, mal alle Register aufrauschen lassend und mit Schwung in die Fußpedale tretend. Die Kontraste des bisweilen hart geschnittenen Werkkatalog wurden so noch schartiger. Licht und schön schwang sich hingegen das Singen des im großen Kreis auf dem Podium versammelte Chors durch Scharouns Klangkathedrale. Ergriffenheit und Klos im Hals beim Publikum, freudvolle Attacke und fließende Hingabe bei den Ausführenden. Ein kurzer, großer, wunderfeiner Abend.

Höhepunkte waren sicherlich, wie schon von Justin Doyle als Stücke für die einsame Insel beschworen, das vier- und fünfstimmige „Agnus Dei I & II“ von Giovanni Pierluigi da Palestrina, scheinbar einfach und doch von höchster Kunstfertigkeit der Polyphonie. Und auch die Bach-Motette riss mit und erstaunte neuerlich durch ihre glaubensfest einfache  Kompliziertheit. „Jubilate Deo“ von Giovanni Gabrieli gab es als sehr sinnige Zugabe. Dann musste man, die erlaubte Stunde war vorbei, unter dem fast schon Ansteckangst machenden Triumphgejohle der RIAS-Fans neuerlich vom eben wieder eroberten Stammpodium weichen.

Doch zu Hause ließ sich der himmlische Flug irdischer Stimme passgenau auf Youtube fortsetzen. Die großartige Chorleiterin Suzy Digby war just an diesem Abend mit ihren grandiosen ORA Singers, gegenwärtig einer der besten Chöre im nicht eben sängerarmen England, in der hohen Turbinenhalle der Londoner Tate Modern Gallery ebenfalls mit einem ersten Live-Konzert angetreten. Das auch dem 20. Jubiläum des Museums galt. Die ORA Singers verfolgen eine besondere Programmstrategie: Sie kombinieren Renaissancewerke mit zeitgenössischen Chorstücken, die sie bei unterschiedlichsten Komponisten in Auftrag geben.

Auf dem neuesten Album des Vokalensembles wie im Konzert gab es ein geradezu spektakuläres Zusammentreffen. Das Gipfelwerk komplexer Renaissance-Polyphonie, die 40-stimmige Motette „Spem in alium“ von Thomas Tallis (ein lokaler Künstler, nannte ihn Tate-Direktorin Frances Morris, weil er im nahen Greenwich gewirkt hat) spiegelt sich in „Vidi aquam“, der ebenso riesig besetzten Komposition des schottischen Komponisten James MacMillan wider. Außerdem kam das „Ave Verum” von William Byrd und die als „Ave Verum Corpus“ reimaginierte Klangantwort von Roderick Williams zur Aufführung. Ein Abend der wiedergewonnenen, neugehörten Stimmen. Und die fantastischen ORA Singers lassen sich damit auf ihrer neuesten harmonia-mundi-CD beliebig oft wiederholen.

Schöne Klangerlebnisse auch einen Musikfest-Abend später beim Konzert der Berliner Philharmoniker unter Kirill Petrenko. Frank Peter Zimmermann spielte das Alban-Berg-Violinkonzert süffig und dunkelschön als sei es frisch geschmolzene Demel-Schokolade. Und Petrenko wiegte sich in verdrehten „Rosenkavalier“-Walzern. So g’schmackig und vollsatt, ohne jedes raspelnde Robusto und harsche Bogenstriche hat man das schillernde Stück lange nicht gehört. Dabei war der fragile Wohlklang immer ein gefährdeter, kein selbstsicheres Schwellgen.

Dazu passte der schnelle, doch pastos ausgemalte Ansatz Kirill Petrenkos für die im Konzertsaal rare, wunderbar böhmisch holzbläserdudelnde 5. Sinfonie Antonin Dvoraks. Bei den Fortestellen, vor allem im Finale, wurde freilich neuerlich deutlich, wie unmusikalisch die gegenwärtige Covid-auseinandergezogene Aufstellung der Philharmoniker ist. Die Blechbläser überstrahlten, obwohl sie sich zurücknahmen, die Streicher, die sogar in 14er-Besetzung angetreten waren. Warum dürfen Daniel Barenboim und die Staatskapelle-Seinen so viel näher zusammenrücken, zu zweit von einem Pult spielen? Das muss sich schleunigst wieder ändern.

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