Ein Käfig voller neapolitanischer Opernnarren: Vincis frühe Buffa „Li zite ’ngalera“ als geschlechtsfluide Wiederentdeckung an der Mailänder Scala

Fotos: Brescia e Amisano

Zwei Männer küssen sich im Hafen von Neapel, Vorher haben sie einander angeschwärmt, obwohl sie von anderem sprachen. Die Zeit: 1722. Und da soll solches passiert sein? Natürlich nicht, aber in der Oper schon, genauer: in einer Commeddeja pe mmuseca, wie es auf gut Neapolitanisch heißt, also einer Commedia in Musica auf Hochitalienisch. Die wiederum trägt den ebenfalls so unverständlichen wie absurden Titel „Li zite ‘ngalera“, was sich mit „Die Mädchen auf dem Schiff“ übersetzen lässt. Von denen wiederum ist in eben dieser einzig erhaltenen von zehn komischen Opern des in den letzten Jahren wiederentdeckten, in Kalabrien geborenen Komponisten Leonardo Vinci höchstens am Schluss peripher die Rede. Auch sonst in diesem durchgeknallten Dreiakter einiges daneben. Das aber höchst reizvoll.

Denn die älteste erhaltene, eben 1722 uraufgeführte neapolitanische komische Oper ist nicht nur ein wichtiges Bindeglied zur frivol-bodenständigen Oper der Venezianer, wo erstmals für kommerzielle Musiktheater komponiert wurde. Sie greift in ihrem amourösen wie geschlechtsfluiden, mit Wonne sexuell doppeldeutigen Durcheinander auf die Vorbilder der Commedia dell’arte wie des antiken Theaters zurück.

Denn Carlo und Peppariello, die bei dieser bedeutsamen Erstaufführung an der Mailänder Scala, von Regisseur Leo Muscato vor einer Hafenvedute so emotional offen enggeführt werden, sie sind eigentlich ein junger Mann, der von einem Sopran (die kraftvoll Höhen erklimmende Francesca Aspromonte) gesungen wird sowie Belluccia, eine junge Frau, die ihn einst geliebt hat, aber von ihm verlassen wurde, und die sich trotzdem in Männerkleider aufgemacht hat, ihn wiederzufinden. Die wiederum verkörpert der kräftige Mezzo Chiarra Amarù in soldatischem Rock mit erdigem Timbre. Und gerade sind wir am Moment des Umkippens als Carlo merkt, dass er diesen Peppariello von irgendwoher kennt, ja dass er offenbar Gefühle für ihn entwickelt.

Losgegangen ist es drei Stunden früher mit einem schrillen Strophenlied, virtuos einfältig plappergesungen und dahingedribbelt von der Arlecchino-ähnlichen Dienerfigur des Ciccariello. Denn verkörpert bei seinem Scala-Debüt mit Spielleidenschaft und Vokalwitz der Countertenor Raffaele Pe, der zwar in den Seria-Opern Vincis erfahren ist, den man aber nicht unbedingt in einer frühen Buffa vermuten würde. Aber so waren hier eben noch die Verwurzeltheiten an die ältere Oper. Denn sogar einen zweiten Counter gibt es (im Original sind es Soprano und Contralto, wer immer das dann auch gesungen hat): einen sensitiven Jüngling namens Titta (für den sonst auf Intriganten festgelegten Filippo Minecca mal eine Erlösung vom Typecasting), rettungslos verliebt in die fesche, freche Ciomma – als die sich auch Francesca Pia Vitale nicht die Sopranbutter vom Rollenbrot stehlen lässt.

Dumm nur, dass der noch zwei andere Kerle hinterhersteigen, eben Carlo und der gewitzte (was sonst?) Barbiere Col’Agnolo; für den sich Antonino Siragusa zugunsten des plastisch gemeisterten Tenorcharakterfachs langsam von den Rossini-Prinzchen verabschiedet hat. Tittas Mutter Meneca, die Patentante von Ciomma, hat sich wiederum wie Ciomma in den falschen Peppariello verguckt. Und um das Ganze noch komplizierter zu machen: Die Alte wird ebenfalls von einem Tenor gesungen, und Alberto Allegrezza macht das ganz fabelhaft als Mischung aus Elisabeth Flickenschild und Donizettis bassbrummelnder Mama Agata.

Als weiterer Diener (der Menaca) ergänzt der fulminante Bass Marco Filippo Romano die vorherrschenden Stimmgarnituren um den dunklen Bereich. Bevor tief im zweiten Akt als Kapitän eben jener Galeere mit den unwichtigen Türkenmädchen (die gar keine sind) ebenfalls ein Bass, der weichstimmige Filippo Morace – der einzige der hier toskanisches Hochitalienisch singt – samt trillerfreudigem Vogelkäfig durch den Parkettmittelgang einmarschiert. Und er, natürlich der verlorene Vater hat, zur Abrundung des Ensembles, noch den Türken Assan (Matías Moncada, ebenfalls Bass) und die hübsch sich drehende Fan Zhou als orientalische Sättigungsbeilage Na Schiavotella dabei.  

Ursprünglich hat der gewitzte Librettist Bernardo Saddumene den ganzen Liebeskuddemuddel in einem Einheitsbühnenbild am Golfhafen Vietri sul Mare, der vor allem für seine bunte Keramik berühmt ist, spielen lassen. In der großen Scala aber hat Frederica Parolini geschickt aus diversen Rokoko-Zimmerstücken auf ferngesteuerten Plattformen ein sich immer wieder neu zusammensetzendes Gasthof-Labyrinth entworfen. Die fahren links und rechts durch Bögen rein wie raus. Das alles steht in einem nostalgischen Goldrahmen, und ist nach hinten durch einen graustichigen Wolkenhorizont abgeschlossen. So wirkt es sehr graphisch, wird aber durch das im Dauerbewegungseinsatz wurlende Ensemble samt Statisten in den kunterbunten, historisch korrekten Kostümen von Silvia Aymonino fein belebt.

Denn Leo Muscato, der so mehr und mehr den altgedienten Regisseur Roberto de Simone als Spezialist für dieses Repertoire ersetzt, hält ideal die Mitte zwischen Aktion und Überaktion. Es ist viel los, man spielt vehement Commedia, aber alles bleibt im überschaubar genießerischen Rahmen einer raffiniert aufgeschnittenen und lebendig gewordenen Vedute. Die höchstens in ihren Geschlechterdispositionen den bisweilen doppeldeutigen Wortwitz auch optisch ausspielt, ohne die Balance des Passenden zu verlieren. Am Ende ist dann eben doch jedes Deckelchen auf dem entsprechend gemischten Deckelchen. Nur die beiden als Pulcinelle mit Kurzfüßen verkleideten Diener halten ebenfalls allerliebst Händchen. Was man aber bloß nicht als Statement verstehen sollte!

Eine Haltung zu Leonardo Vincis gewitzt komischer, eben meist einfach in Strophenliedform gehaltener Partitur hat hingegen der gewiefte Alte-Musik Spezialist Andrea Marcon am Pult des auf historischen Instrumenten spielenden Scala-Orchesters; welches vor allem für die diversen, hinzugefügten Zupf- wie Holzblasinstrumente von dessen La Cetra Barockorchester aus Basel ergänzt wird. Auch ihm geht es um Unterhaltung wie Abwechslung. Deswegen hat er den Klang der nur mit Streichern, Oboen und Trompeten operierenden Partitur aufgepeppt und farbenreich verlebendigt. Das zwitschert und trötet, dass es eine Hörfreude ist.

Und so ist die Begegnung mit dieser kostbaren Rarität aus einer lang kaum beleuchteten Ecke der frühen Italienischen Oper eine höchst zufriedenstellende. Hier wird die Mailänder Scala ihrer Rolle als Kustodin des Erbes wunderbar gerecht. Warum aber in der Lombardei und nicht nahe am Ort des Geschehens, im neapolitanischen Teatro San Carlo? Eines der vielen Mysterien italienischer Opernpolitik….

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