Hilflose Splatterorgie im Drogenrausch: Ersan Mondtag verschießt in Kassel den „Freischütz“ aus dem Wald ins allzu bekannte Opernirrenhaus

Fotos: Birgit Hupfeld

Dreie treffen, viere äffen. Leicht „Freischütz“-abgewandelt, könnte dieses Musiktheater-Jägerlatein nicht nur für die Wolfschlucht-Kugelgießerei, sondern auch für Ersan Mondtags bisherige Opernkarriere gelten. Der hochgehypte Theaterregisseur aus Berlin hat dreimal Glück gehabt, mit Schrekers „Der Schmied von Gent“ und Weills „Der Silbersee“ zweimal an der Flämischen Oper sowie mit Rued Langgaards Mysterium „Antikrist“ an der Deutschen Oper Berlin. Alles Stücke jenseits des Repertoires, denen Mondtags knallbunt expressive, bisweilen trashige Bildsprache (er ist meist sein eigener Ausstatter) bestens bekam. Anders als sein ebenfalls vielgefragter Kollege Antú Romero Nunes schien sich da ein naiv-originelles Operntalent zu zeigen, auch wenn sein musikalischer Zugang eher laienhaft ist.

Die Theater griffen sofort nach der frischen Beute. Pandemiebedingt war jetzt schon, zwei Wochen nach dem Langgaard, „Freischütz“-Premiere in Kassel. Ende März steht in Hannover Marschners „Der Vampyr“ an. Dann aber soll mindestens wieder anderthalb Spielzeiten Schluss sein mit Oper, am Theater hat Ersan Mondtag diese Saison nämlich gar nicht inszeniert. Doch mit dem Weber, seinem ersten richtigen Repertoirestück, gab es jetzt einen blutigen Fall auf die Nase. Was trashy gemeint war, ist hier leider nur Müll geworden, die Zweifel am Stück wurden zur Bankrotterklärung einer unsicher suchenden Regie.

Doch Mondtag hat sich immerhin dieses unmögliche Stück vorgenommen und ist daran ähnlich krachend gescheitert, wie viele, weit professionellere Opernregisseure vor ihm. Am Schicksalsstück von deutscher Seele und deutschem Wald, Jungfernkranz und Jägerchor, Samiel und wilder Jagd. Schwer zu singen, noch schwerer zu glauben. Als urdeutsche Mischung aus Singspiel und Belcanto, aus Süße, Misston und genialischer Vorfilmmusik in der Wolfsschlucht-Szene. Das Dunkle und das Biedere, das Böse und die Unschuld. So unvereint und doch so nah.

Kaum ein Regisseur wagt das noch, auch die Klugen und Versierten werden dabei ihres Unbehagens nicht Herr. Man sieht, opernlandauf und -landab, bei diesem Werk mehr Ratloses als Sinnfälliges, Wegdriftendes, wo Klärungsbedarf bestünde, Platzpatronen und Pennälerscherze als für zu leicht befundene Ausweichmanöver vor drängenden Inhaltsproblemen, die offenbar einfach nicht in den heutigen Griff zu kriegen sind. Rummelplatz-Mumpitz und Volksverarsche. Freikugelgießen als Feuerzangenbowle. An der sich keiner wirklich verschlucken soll und mag. Der Alles-wird-gut-Schluss reicht meist nur noch zur Farce oder zur Null-Bock-Splatterorgie.

So wie jetzt auch am Staatsorchester Kassel. Da freilich mag man das „Staatsorchester“ kaum glauben, wenn man den muffigen, lahmen, leisen Sound hört, den Mario Hartmuth, immerhin stellvertretender GMD, als müde Wunschkonzert-Ouvertüre mit Filzpantoffeln entfesselt. Herabtropfendes Blut umrahmt bereits als grelle Stoffbahn den Graben. Und gemetzelt wird auch auf der Bühne, das Stück wie seine Protagonisten.

Mondtag kann seine Vorbilder, vor allem Frank Castorf, diesmal so gar nicht abstreifen, und weil ihm wenig Originelles eingefallen ist versteift und verstrickt er sich in allen handelsüblichen Anti-„Freischütz“-Deutungsmuster. Leider hat er diesmal zudem die Ausstattung anderen überlassen, Nina Peller (Bühne) und Teresa Vergho (Kostüme) liefern nur fade Mondtag-Kopien aus zweiter Hand.

Auf der unvermeidlichen Drehscheibe steht ein comicquietschiger Western-Outpost als Försterhaus. In dem trieb einst der „Alte Nazi“ (gemeint ist die Kasseler Rüstungsgröße Oscar Henschel) sein Unwesen – und kracht immer noch als Bild auf Köpfe –; jetzt waltet dort sein Nachfahre Kuno. Und weil die Bassbaritonin Sam Taskinen früher mal ein Mann war, stolziert sie nun mit Handtasche und abgeknicktem Handgelenk als genderfluides Schwarzwaldmädel durch die Szenerie. So what? Auch Kilian (Ilyeol Park) singt sein Schmählied auf Max mit gelben Puffärmeln. Der wiederum ist sowieso schon in Zwangsjacke und Irrenhaus, die Pfleger als Umbauhelfer schwenken in seine Indoor-Zucht aus Monster Magic Mushrooms, die sich phallisch glänzend zwischen Spiegeln recken.

Freischütz“ als Maxens Hirngespinst aus Drogenrausch und Neonazi-Alptraum: Denn im Wald, da sind natürlich die unbelehrbaren Wehrsportgruppen mit dauererigiertem Deutschen Gruß. Weshalb sich der Zombie-Chor in lottriger Groteskkarnevalsverkleidung erstmal erschossen zum Singen niederlegt. Im gleichen Kabinett hausen – auch Anstaltsinsassinnen? – ebenfalls Agathe (verhaut kurzatmig ihr erste hohes H und wird stetig intonationsschwächer: Margrethe Fredheim) und Ännchen (hochdramatische Soubrette: Emma McNairy). Beide mögen sich fast mehr als die Männer, jedenfalls laufen da mit Kinky Rubberboots und Gummimetzgerschürzen irgendwelche Fetischspiele samt neckischer Statisten-Peitscherei. Agathe träge blauen Bubikopf und später die Konkursmasse aus Martha Mödls pleitegangener Nerzzucht am Leib, Ännchen gefällt sich als böse Fee Malefitz mit Kissinger Hörnchen-Zopfgebinde.

Alle hübsch großstadtschrill verkleidet, aber darin stecken deutsche Stadttheatersänger, die solches vor allem darstellerisch in keiner Weise ausfüllen. Und von der Regie alleingelassen werden bei dürftig woke-aktualisierten (vermutlich, es offenbart sich kein Autor, vom Dramaturgen Till Briegleb), übelst durchhängenden Dialogen. Auch weiß Mondtag gar nicht, wie man lange Arien inszeniert, so wird meist rumgestanden und operngestikuliert.

Vor der Wolfsschlucht gibt ein endlich mal fortefortissimo lautes Terzett für Kettensägen (plus assistierendem Häcksler) samt echten Baumstämmen, die miniaturisieren gleich Adornos wohlfeiles Diktum vom „Freischütz“ als „Höllenvision aus Biedermeierminiaturen“ mit. Denn klar, der possierlich gemalte Wald ist natürlich ein vergewaltigter und sterbender, aber was folgt, ist eben wiederum nur Chainsaw Mascara – mit bemüht ironischem Wimpernklimpern. Plastikmüll und ausrangierte Waschmaschinen pflastern den gestrigen Regietheaterweg.

Während Weber allzu hübsch klangbegossen im Orchestergraben faucht, vollführt oben der blondierte Drogendealer Kaspar (arg hellstimmig: Filippo Bettoschi) mit den Sieben Todsünden einen feschen Voodoozauber. Dazwischen trappst der vorher als Oberpfleger auch mal am Graben wortbedeutungsangelnde Samiel (jungspundharmlos: Jonathan Stolze) auf Riesenkrähenfüßen als LSD-Jesus und Halloween-Heidi-Klump in einer schmächtigen Person zur nächsten Catwalk-Challenge.

Germany sucht hier aber kein nächstes Regietopmodel, in Kassel schleckt man in sehr alten Deutungstöpfen und finden nur überriechende Konzeptreste von vorgestern. Die noch nicht Mal aufgewärmt Sinn machen. Und so geht der zweiten Hälfte vollends die Puste aus, bis – nach einem echt gruselig gesungenen „Jungfernkranz“ und einem ordentlichen Jägerchor (mit Leichensack-Drapierung) – vor einem rotglühenden Sonnenuntergangshorizont und dem verhauenen „Goldenen Schuss“ ein bucklige Eremit als Wuschelpapst im Eisbärenfell (erzern: Magnus Piontek) dem langweiligen Anarcho-Dilettantismus  ein Ende macht. Der kraftvoll singende, aber darstellerisch völlig hilflose Max von Mikro Roschkowski landet einen Stock tiefer im vergitterte Irrenasyl für die unheilbaren Fällen. Endlich.

Über drei Stunden dauerte diese schauderbar tönende, ungenießbare, weil längst ihr Haltbarkeitsdatum überschritten habende Assemblage aus alten Schläuchen, neuen Peinlichkeiten und albernen Klischees. Am Stück wurde wacker banal vorbeiinszeniert. Für müde Buhs reicht es.

Einen Probeschuss hat Ersan Mondtag noch. Leider mit einem ähnlich blutigen, diesmal freilich seichten, aber trotzdem gefährlichen untiefen Werk. Nunes hat den „Vampyr“ bereits auf schnelles Nimmerwiedersehen an der Komischen Oper als splattrige Schlachtplatte angerichtet. Hoffentlich fällt Ersan Mondtag hier nicht wieder in jeden Honigtopf der Kolportage. Es wäre schade um sein genuines Talent.

SHARE

Schreibe einen Kommentar