Komplett unbekanntes Opernscharnierstück: Der Palazzetto Bru Zane hat glorios die frühklassizistische „Phèdre“ von Jan-Baptiste Lemoyne ausgegraben

Thema verfehlt? Nur wenn man Zahlenfetischist ist. Natürlich gehört eine Oper mit Uraufführungsdatum 1786 nicht unbedingt zum Stiftungszweck der Fondation Palazzetto Bru Zane, die sich seit über zehn Jahren äußerst erfolgreich der Wiederbelebung des französischen Musiktheaters des 19. Jahrhunderts verschrieben hat (und wieder muss man fragen: Wo gibt es solches in Deutschland?). Solches ist eigentlich eher das Terrain von Benoît Dratwicki, directeur artistique des Centre de musique baroque de Versailles. Praktischerweise ist aber sein Zwillingsbruder Alexandre Bru Zane-Kunstchef und so reicht man sich bisweilen die Projekte an der historischen Trennungslinie weiter, besonders wenn es um klassizistische Stücke gehen, die weit ins 19. Jahrhundert ausstrahlen.

So wie die „Phèdre“ des total unbekannten Jean-Baptiste Lemoyne (1751–1796). Den gleichen Namen tragen übrigens ein Barockbildhauer und ein heutiger Politiker. Dem Tonsetzer gelangt mit dem im Schloss Fontainebleau herausgekommenen frühklassizistischen Dreiakter „die beste Oper, die Gluck nicht komponiert hat“, so allgemein die Meinung. Librettist François-Benoît Hoffmann schrieb 11 Jahre später für Cherubini die „Medée“, mit der sie durchaus mithalten kann. Nur blöderweise ist sie, obwohl auf dem berühmten Racine-Drama basierend, total vergessen. Weil keine Callas sie entdeckt hat. Und auch jetzt musste sie wieder warten.

Schon 2017 war die „Phèdre“ anlässlich des regelmäßigen Bru Zane-Festivals in Paris im Théâtre des Bouffes du Nord, vorgestellt worden. Freilich orchestral reduziert, um etwa eine halbe Stunde und vor allem die Chöre gekürzt als nur szenisch stilisiert andeutende Tournee-Version. Sie erwuchs selbst mit lediglich zehn Musikern auf einem mit neun Löchern versehenen Podest und einem hervorragenden, mit dekorativen Goldapplikationen verzierten Sängerquartett als vehement dramatischem Vokalkleeblatt zur Singtragödie von Format. Danach freilich wurde sie, inklusive des langen Prologs mit Chören und Tänzen, bei Konzerten im Budapester Müpa komplett und groß eingespielt; wobei erstmals bei Bru Zane der ungarische Barockspezialist Györy Vasheghy mit seinem Purcell Choir und dem Orfeo Ochestra zum Einsatz kam. Letzteres fetzt gleich in der grummelnd bewegten Ouvertüre los und hinterlässt auch weiterhin unter seinem souveränen Taktstockführer allerbesten Eindruck. Über zwei Stunden Spielzeit entfaltet sich ein durchaus eigenständiges Stück und verknüpft das geschliffene Pathos der französischen Oper mit der farbigen Lebendigkeit der italienischen Tradition. Ein ganz wunderbar lebendiges, vielfältiges, auch dramaturgisch sofort spielfertiges Werk. Opernhäuser, bitte zugreifen!

Lemoyne war zunächst als Dirigent aktiv, kam auch nach Deutschland und studierte unter anderem bei Carl Heinrich Graun in Berlin, Johann Abraham Peter Schulz und Johann Philipp Kirnberger. Friedrich der Große ernannte ihn sogar zum zweiten Hofkapellmeister. in Warschau kam 1775 seine erste Oper „Le Bouquet de Colette“ heraus, bereits mit seiner späteren Muse Antoinette Saint-Huberty. Bald kehrte er durchaus erfolgreich nach Paris zurück, stritt sich mit Gluck, wurde Piccinist und war eine kurze Zeit bis zur Revolution von einer Welle des Erfolgs getragen.

Diese „Phèdre“ war, wie später die Opern für Cornélie Falcon oder Pauline Viardot, als Protagonistinnenstück ganz auf die Stimmqualitäten einer bestimmten Sängerin zugeschnitten: eben Antoinette Saint-Huberty, die wohl ein Mezzo mit nicht so toller Höhe war, aber dampfwalzengewaltiger Bühnenpräsenz. Judith van Wanroij mit ihrem hellen Timbre verkörpert die in ihren Stiefsohn Hippolyte verliebte Athener-Königin ihr ebenbürtig mit grandios royaler Allüre und bannender Vokalkunst. Ihr Nuancenreichtum vom Hoffen und Beben über Wüten und Rasen teilt sich mit Leichtigkeit auch über Lautsprecher mit, ganz besonders in den ausführlichen Rezitativen. Julien Behr ist der tenorzarte, aber auch widerständige Hippolyte. Einmal mehr bewährt sich der versatile Tassis Christoyannis als Bru-Zane-Urgestein mit baritonal weicher Allüre als schäumend gehörnter Gatte Thésée. Auch die kleineren Partien sind bestens besetzt. Wieder eine Bru-Zane-Perle!

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