Kunstverbeugungen vor einer Kaiserin und einer legendären Ballerina: Das Ravenna Festival prescht vor in den zweiten Corona-Festspielsommer

Und auch im zweiten Jahr d. P. (der Pandemie) ist Ravenna das erste Festival Italiens, das wieder einlädt. Was natürlich auch am frühen Spieltermin liegt. Kaum sind die Restaurants an der Adria-Küste und im Landesrest neuerlich offen, da können auch wieder 400 Personen auf Lücke unter dem Sternenhimmel in der atmosphärisch ausgeleuchteten, einstmals venezianischen Rocca Brancaleone orchesterklangschwelgen, oder 200 im schön verschlissenen Teatro Alighieri – oder exklusive 50 beim diesjährigen, lange vor inneren Augen und Ohren nachwirkenden Eröffnungsspektakel in der ehrwürdigen Unesco-Weltkulturerbe-Kirche San Vitale.

Hier vor den weltberühmten, 1500 Jahre alten Mosaiken in der Apsis, die sie juwelengeschmückt mit einem lila Überwurf zeigen, scheint Kaiserin Theodora lebendig geworden. In effektvoll blaues, immer wieder dramatisches Licht getaucht, von langen Liegetönen des Basses, des Cellos, der Geige und eines Akkordeons sinnfällig begleitet, von mal madrigalesk polyphon, mal choralhaft gleichmäßig geführten Stimmen umschwebt, von einer Tänzerin wie eine Schauspielerin umspielt, so wirkt sie in ebenfalls lila Stoffe gehüllt wie eben von der Wand gestiegen.

Ganz einfach „Teodora“ heißt auch diese Opernstunde himmlischer Gesänge wie harmonischer Bilder in dem einzigartigen Raum, die sich freilich extravagant als „Scalata al cielo in cinque movimenti“ empfiehlt – als „Himmelsleiter in fünf Bewegungen“. Das ein wenig esoterische Monodram wurde extra bestellt bei dem Komponisten Mauro Motalbetti und der Librettistin Barbara Roganti. Und erzählt mehr in einer Art Bewusstseinsstrom von Aufstieg und Fall jener berühmten, in dieser Kirche individuell verewigten Kaiserin Theodora (500-548 n. Ch.), die sich als Schauspielerin und wohl auch Prostituierte von Kaiserin Justinian zur Mitherrscherin über das oströmische Byzanz emporgehoben sah. Blumige Worte sind das, weniger sinnhaft, denn szenisch sprechend, Glanz und Elend, Schönheit und Staub, Kostbarkeiten wie die Kloake des antiken Konstantinopel beschwörend. Ein köstliches Stück- und Splitterwerk, sehr passend in der Stadt der Mosaiken

Roberta Mameli singt die Kaiserin mit klarem, doch dunklem Sopran und regaler Gestik. Auf einem mit kostbaren Stoffbahnen verhüllten Thron sitzend oder unter der barock mit Engeln und scheinperspektivischem Himmel ausstaffierten Zentralkuppel des oktogonalen Baus stehend, ist sie jeden Zoll eine Herrscherin. Die sich in den Einwürfen einer Schauspielerin (Matilde Vigna) spiegelt, die als Dialogpartnerin fungiert, während noch eine weitere Vorsängerin aus dem Chorensemble sich bisweilen vernehmen lässt und die Tänzerin Barbara Martinini sie mit offenem Haar und dramatischer Gestik priesterinnenhaft konterkariert.

Faszinierende Energie, unbedingtes Kunstwollen ist in dem herrlichen Bau zu spüren. Die vielfältige Brechung der Töne, die klaren Bilder scheinen fast wie aus wechselnden Kameraperspektiven vorgeführt. Doch – wunderbar! – es ist alles live, dreidimensional, kein Stream! Wir tauchen ein, geben und hin, lassen uns tragen, von der Musik im komplex gebrochenen Raum, für den sie eigens, könnerisch und kenntnisreich konzipiert wurde. Vor allem für die lange nachhallende,  großräumigen Akustik, die von vielerlei Platzierungen aus, oben, unten, hinten, in der Mitte, im Umgang, das Altevoci Ensemble konzentriert wie zauberisch entfesselt und auskostet.

Musik im Jetzt, so nur in diesem sehr besonderen Ambiente möglich.  Die Antike scheint plötzlich greifbar, ihre Spuren klingen nach. Das mag kitschig anmuten, in den Mauern von San Vitale, die durch die Zeiten hin so viel erlebt haben, wirkt diese so lange entbehrte Musik wie ein Gruß vom Himmel, harmonisch, disharmonisch, scheinbar uralt und ewig, größer als das sich endlich wieder etwa lichtende Pandemie-Jetzt.

Ein Neuanfang! Es kann auch mit etwas Altem frisch sein. Wie etwa einen Abend später im Teatro Alighieri. Das ist der richtige, ein wenig staubige Ort für „L’heure exquise“. So singen sie auf Französisch in Lehárs Operette „Die lustige Witwe“ deren Hit „Lippen schwiegen, s’flüstern Geigen“. Und so führt es in Samuel Beckets „Oh, les beaux jours“ Winnie in ihrem Sandhaufen vor, während der Gatte Willi meist bewegungsresistent daneben liegt. Das Theatermanifest des Sixties-Absurden hat 1998 Maurice Béjart in ein traumschönes Duo für reife Tänzer verwandelt – und vor allem in eine Hommage an die italienischen Assoluta Carla Fracci.

Nur wenige Tage nach derem Ableben und der Aufbahrung im Foyer der Mailänder Scala ist die Wiederaufnahme eine folgerichtige Hommage an die legendäre Primaballerina. Die nun quasi von ihrer Nachfolgerin verkörpert wird, der inzwischen 58-jährigen Alessandra Ferri, die ihre bedeutendsten Tanzjahre freilich beim American Ballet Theatre verbracht hat, und nach einem kurzen Rückzug doch wieder in speziell für sie kreierten Rollen auf die Bühne zurückgekehrt ist. Ihr zur Seite: erstmals wieder seit seinem Abschied als Solist des Hamburg Ballett, Carsten Jung, 47 Jahre alt.

Die beiden sind ein gutes Paar, gleichstark, auch wenn hier naturgemäß Winnie die Prima ist. Statt in einem Sandhaufen thront sie in einem rosa Berg aus Spitzenschuhen, aber natürlich verlässt die sprechende, singende, parlierende, träumende Ferri den auch, um uns die beaux restes (eindrücklich!) ihrer grazilen Tanzkunst zu zeigen. Carsten Jung sitzt erst abgewandt daneben, spielt Gitarre, liest Zeitung und erweist sich einmal mehr als vollendet viriler Partner, der zu Klängen von Mozart, Webern, Lehár natürlich und viel Mahler (der dritte Satz aus der 4. Sinfonie) die Ferri assistiert.

La Ferri trägt Schirm, Hütchen und Umhang, kramt in ihrer Tasche nach Spitzenschuh, Puderquaste und Revolver, tagschlafwandelt und ist doch tanzwach. Nach einer Dreiviertelstunde schließt sich der Vorhang. Nach einer Lichtpause geht das stehende Jetzt dieser ewig glücklichen Tage weiter. Und man folgt fasziniert der ausdruckstarken Kunst dieser beiden vollendeten Tanzdarsteller, ein wenig nostalgisch, berührt, aber eben auch real anwesend, echt und doch gleich wieder verweht. Oh, les beaux jours! Eine wirklich exquisite Stunde klug reflektierter Künstlerpersönlichkeitshuldigung und feiner Beckett-Anverwandlung. Das Publikum zeigt sie so bewegt wie begeistert. Und irgendwie schwebt sicher der Geist von Carla Fracci über dem blaugoldenen Auditorium.

Das einst von Riccardo Mutis Gattin Christina Mazzavillani gegründete Ravenna Festival erweist sich auch im 32. Jahr als buntes Tischfeuerwerk und köstlich bestückter Gemischtwarenladen der Künste. Es gibt Oper, Konzert, Liederabend, Tanz, Schauspiel, Jazz, Performance, Kino. Alles geht hier, wenn die Qualität stimmt. 1200 Künstler sind diese Saison dabei.

In diesem, dem 700. Jahr seines Ablebens, ist es natürlich dem hier begrabenen Dante Alighieri gewidmet. Das sollte es auch letztes Jahr schon sein, doch das Virus erzwang Verschiebungen. „Dedicato a Dante“, so steht es auf der Festival-Broschüre unter einem Schwarzweißfoto, das Licht am Ausgang eines Tunnels zeigt. „A riveder le stelle“ – die Sterne neu grüßen“, das in diesen Monaten in Italien vielzitierte Motto aus der „Göttlichen Komödie“ scheint natürlich auch beim Ravenna Festival auf. Und das fast genauso alte Dante-Meisterwerk soll vor allem im September und Oktober für die traditionelle Trilogia d’Autunno variiert und neuinterpretiert werden ­– im Tanz, in der Musik und im Wort. Dafür stehen Namen wie Sergei Polunin, Johann Wolfgang von Goethe und Robert Schumann, Elio Germano.  

Manchmal aber gibt es in Ravenna auch ein einfach nur schönes, erhebendes Konzert. So wie eigentlich jedes Jahr von der im nahen Bagnacavallo residierenden Accademia Bizantina unter ihrem nimmermüden Chef Ottavio Dantone. Gefeiert als eines der führenden Barockformationen Italiens, wagen sich die Musiker immer wieder aus ihrer Komfortzone, stoßen vor bis in romantische Regionen. Selten aber so konsequent wie an diesem, wildbewegt von Wolken und Wind umspielten Abend in der Rocca Brancaleone mit zwei deutschen Sinfonien – der 4. von Felix Mendelssohn und der 3. von Robert Schumann, der Italienischen und der Rheinischen.

Weit über 40 Musiker sitzen auf dem Podium und führen nicht nur mit ihren Gummischnüren und Wäscheklammern Notenfixierungskunststücke gegen die Thermik auf. Sie spielen auch, senza vibrato, aber mit Finesse, flott, flexibel diese oft allzu dröge zelebrierte Musik. Dantone treibt straff an, ohne zu hetzen. Das explodiert in Jubel und Lebensfreude im Saltarello-Finale Mendelssohns, aber auch dessen Bach-Reminiszenzen werden bedacht. Schön auch der plastisch ausgedeutete, prachtvoll tönende Schumann. Ravenna felice!

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