Lustvoll lückenhafte Szenen einer Opernehe: in Frankfurt findet David Hermann überraschende Gemeinsamkeiten zwischen Schönberg und Frank Martin

Fotos: Barbara Aumeister

Szene einer Ehe, versungen und vertan. Wie oft hat man das schon im Musiktheater gesehen? Doch wer hätte gedacht, dass sich Hugo von Hofmannsthals knittelversiges Sterben des reichen Herren namens „Jedermann“ so gut mit Arnold Schönbergs großer Sopran-Psychostudie in weiblicher Hysterie namens „Erwartung“ inhaltlich kurzschließen lassen würde? Ja, dass Frank Martins sechs Monologe, als Klavierzyklus konzipiert, 1949 orchestriert, mit zwei weiteren Schönberg-Stücken verwoben, sich sehr aussagekräftig zur Geschichte einer gescheiterten Zweierbeziehung ergänzen lassen? Da ist er also, der neue Ansatz, das Spielen mit zum Teil isoliert bekannten Versatzstücken, die so, zusammengefügt von David Hermann, in Frankfurt einen ganz neuen, überraschenden Opernabend ergeben können.

Hier, in „Warten auf heute“, passt aber auch alles ganz wunderbar zusammen. Etwa das von Anfang bis Ende vorhanglos auf der sonst leeren Bühne präsentierte Einfamilienhaus von Jo Schramm, das so etwas wie eine dritte Hauptrolle spielt. Er wirkt grau abstrakt, ist leer, sieht mit seinem flachen Dachstuhl und der Veranda ein wenig nach US-Suburb in den Fifties aus. Ein Busch und ein Baum, kahl, aber mit weißen Netzen auf Volumen gebracht, rahmen es ein.

Darin spult sich zunächst „Von heute auf morgen“ ab, die einstündige Geschichte eines kurz zerstrittenen, dann wieder auf die gemeinsame Spur gebrachten Ehepaars, so wie sie sich die Eheleute Arnold und Gudrun Schönberg (sie schrieb unter dem Pseudonym Max Blonda) als flotte Zeitgeistoper ausgedacht haben. Uraufführung war übrigens 1930 in Frankfurt. Die erste Zwölftonoper war es zudem, auch wenn hier die etwas hölzern, aber flott sich abspulende Musik ein wenig diametral zum frech-frivolen Text steht. Da nämlich fragt sich die treusorgende Gattin mal kurz, wie es wäre, wenn sie dem flirtbereiten Tenor nachgeben würde, den sie vorhin so toll fand, und er sich ihrer attraktiven Freundin widmen würde…

Ein Spiel nur, dann mach ich mir ‘nen Schlitz ins Kleid und find‘ es wunderbar, aber für ein Moment womöglich gefährliche Wahrheit. Sie zieht sich schrägt an, posiert, er spielt mit dem Gefühlsfeuer, werden ein wenig rollig, aber dann tauchen sie wieder in ihrer graue Vorortexistenz mit Kind ein. Lebensentscheidungen sind ja längst gefällt. Wirklich? Und der seltsame Riesenhase in der Garage? Ist unser Freund Harvey doch real?

Das Haus hat da längst sein Eigenleben begonnen, verschiebt sich dank genialischer Mechanik in drei gerundete Segmente, wie lauter Tortenstücke, setzt sich neu zusammen, sieht stets anders und unerwartet aus. Zumindest die Wohnwelt gerät so aus den Fugen. Die darin Hausen, müssen schauen wie sie sich in der zerbrechenden Ordnung neu orientieren.

David Hermann lässt die biegsam-lässige Elizabeth Sutphen (die Frau) und den schlaksig wohltönenden Sebastian Geyer (der Mann) fast ein wenig verloren durch ihr Heim tänzeln, die knallbunten, leicht stilisierten Fünfzigerkostüme von Sibylle Wallum tun ihr Übriges. Als sich die beiden fast wieder gefunden haben im Jetzt und So-Sein ihrer angestammten Geschlechter- und Alltagsrollen, da tauchen ihre Sehnsuchtsschablonen (Brian Michael Moore, Juanita Lascarro) als Zombies auf, untot blutverschmiert. Die sollen gefälligst draußen bleiben. Als ihm die Hand abreißt, raucht es gruselig. Schüsse gibt es auch. Ein schräger Schluss. Aber nur ein Zwischenstand.

Vor der Pause folgt als Gelenkstück noch Schönbergs im gleichen Jahr komponierte „Begleitmusik zu einer Lichtspielszene“, jetzt sehr gefühlsstarke Musik, im Gegensatz zum dodekaphon Gebauten mit Jazz-Unterfütterung vorher, „Drohende Gefahr, Angst, Katastrophe“ hat ihr der Komponist assoziativ mitgegeben. Alexander Soddy, bis jetzt am Pult des verlässlich präsenten Opern- und Museumsorchesters ein transparenter Tänzeler des Abstrakten, schlägt nun einen massiveren, emotionssatteren Ton an.

Videoüberblendungen geben dem Haus Farben und Tiefe, eine virtuelle Realität. Aber das alltägliche Kommen und Gehen bei im Zeitraffer verrinnender Monate und Jahre zwischen Job, Shopping und Schule, es endet als die Frau allein davon geht. Mit einem Koffer in der Hand. Scheidung und Ende eine Ehe?

Wir wissen nicht, was wirklich da drin passiert ist, der Schein wurde doch lange gewahrt. Das sind die dunklen Gelenkstellen, die dieses neue Opernkonstrukt so unvermutet reizvoll machen. Nicht alles muss hier gesagt werden, und trotzdem folgt eine nicht mehr rückgängig zu machende Reaktion. Das muss besonders schmerzlich der Mann erfahren.

Nach der Pause ist er alt und verlottert, in einem dämlichen Pulli, gegen den Johannes Martin Kränzle ganz nonchalant anspielt und singt. Eine verlorene Seele, der plötzlich nach einem Gott ruft. „Ist all zu End, das Freudenmahl“, so hebt er mit seiner debil wirkenden Suada an. Aber es kommt nur die Essen-auf-Rädern-Frau, deren Warmhaltebox gleich auf dem eisbergartigen Haufen von Styroporschachteln landet, die den Raum zu überfluten scheinen.

Das Haus steht jetzt fast still, das Jetzt tropft. Und keiner weiß, wie sich der greinende Mann, dem nicht einmal mehr Frank Martins dunkel-flächige Orchesterfakturen Würde geben, sich so gehen lassen konnte. „Jedermann“ in einem gänzlich neuen Kontext. Dabei verkörpert von einem tollen, überlebensgroßen Sängerdarsteller, der sich beflissen klein macht. Selten war Einsamkeit stärker zu greifen.

Nicht so bei der schicken Camilla Nylund im anthrazitfließenden Hosenanzug mit grellweißem Haar und dunkler Sonnenbrille. Die kehrt jetzt als zweiter, bedeutender Star zurück, füllt Bühne wie ihr ehemaliges Haus mit Schönbergs immer noch unerhört dramatisch packendem Monodram. Das entstand 1909 entstand, musste aber bis 1924 auf seine Uraufführung warten. Groß und zerrissen, leidenschaftlich, aber plötzlich auch psychologisch sinnfällig reagiert die „Erwartung“ auf das Vorangegangene. Der Mann ist tot, die irgendwie traumatisierte, aber auch starke Frau findet den Leblosen. Sie wird mitfühlend, weich fast, aber emanzipiert sich letztlich wieder von ihrer Vergangenheit. Für sie geht es weiter, sie hat dem Leben besser standgehalten. Wirklich? „…ich suchte.“ So endet sie und wird von Schönbergs suggestiver Musik wie leise davongeweht.

Majestätisch wie die Nylund über diese Partitur gebietet, wie sie die Stimme anschwellen lässt, aber auch nuanciert verfeinert. Da hört man sie schon, die Isolde und die Brünhilden, die bald bei ihr anstehen. Gleichzeitig hat sie sich den vokal opaken Schimmer bewahrt, gleißt, strahlt, tanzt mit genüsslich ausschwingendem Vibrato auf dem Notenseil, das Soddy straff und konzentriert spannt.

Nylund und Kränzle erfüllen jetzt also mit der Kraft ihrer Persönlichkeiten Vokalszenen die plötzlich einen evidenten Zusammenhalt aufweisen. Und doch wohltuend unterschiedlich klingen. Die Oper als Abenteuerspielplatz neu kombinierter Einakter und Solonummern. Ein Pasticcio, wie früher in der Barockzeit, der sachlich-intensiven, gelungenen Art. Musiktheater eben. Ja, wir haben auf das Heute gewartet. Doch Mysterien des sich Auseinanderlebens bleiben.

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