Morgenröte eines Genies: Die Schostakowitsch Tage Gohrisch trotzen der Pandemie mit neun gestreamten Uraufführungen

Nur virtuell, aber doch sehr wirklich – und vor einer weit größeren Zuschauergemeinde als es in der Kulturscheune in der Sächsischen Schweiz möglich gewesen wäre: die Internationalen Schostakowitsch Tage Gohrisch fielen dieses Jahr coronabedingt aus – doch sie haben neun Urführungen ihres Namenspatrons als Stream im Internet präsentiert. Allesamt Klavierstücke, die von drei herausragenden russischen Pianisten gespielt wurden: Yulianna Avdeeva, Dmitry Masleev und Daniil Trifonov. Die vereinten sich vor den Kameras über Kontinente hinweg.

Entdeckt hat die Werke Olga Digonskaya, die leitende Archivarin des Schostakowitsch-Archivs in Moskau, wo immer noch einiges in den Kisten und Regalen schlummert. Schließlich ist der Schostakowitsch-Output riesig, und in Russland wurde vieles aus ideologisch-kulturpolitischen Gründen, weil es nicht in sozialistische Realismuskonzepte passte, lange ignoriert. Vor allem der junge, wilde Schostakowitsch war der sozialistischen Zensur immer ein westlich-dekadenter Balken im Auge.

So fliegt die Arte-Kamera zunächst über die wolkenverhangene Sächsische Schweiz und das Dach des grauen Hotel Albrechtshof hinweg, am Horizont ist der Lilienstein kurz zu sehen, wo Dmitri Schostakowitsch 1960 als Kulturgast der DDR im damaligen Gästehaus sein achtes Streichquartett komponierte und 1972 noch einmal logierte. Drinnen sitzt die rotgewandete Yulianna Avdeeva über poppigen Bodenblasen und vor weißen Stores am Flügel. Sie schlägt schwer die Tasten in der mechanistisch-bruitistischen 1. Sonate von 1920.

Dann folgt, als erste und gewichtigste Uraufführung, beigetragen von Daniil Trifonov in seinem Haus in Greenwich, Connecticut: Drei Fugen o. op. – und das Scherzo op. 1a, das man bis jetzt nur in einer Orchesterfassung kannte. Jugendliche Frechheitsmusik, keine Sünden, sondern durchaus Substanz, die das sowieso schon bunte Schostakowitsch-Bild noch ein wenig farbenreicher glänzen lassen, ist in letzterem hier zu hören. Die Fugen freilich stammen von 1934 und sind wohl eine Vorstudie für das Schostakowitsch-Klavierhauptwerk des großen Zyklus der 24 Präludien und Fugen op. 87 aus den Jahren 1950-51. Am bedeutendsten ist die zweite, die er später öfter in den offiziellen Werkkanon zitiert und eingebunden hat.

 Daniil Trifonov, mit Spitzmaske und ziemlich zugewachsen sieht aus wie Pandemie-Yeti, er spielt aber formidabel, mit Schliff, scharfer Rhythmik, technischer Gelassenheit und subtil eingesetzter Kraft.

Von den USA switscht die Arte-Kamera nach Russia – with Shostakovich Love. Dmitry Masleev widmet sich in der Tchaikovsky-Halle in Moskau mehreren neu entdeckten Klavierbagatellen aus den Jahren 1918-20, also des elf- bis vierzehnjährigen Schostakowitsch: einem nachdenklich-monumentalen Trauermarsch im Gedenken an die Opfer der Revolution, einer sanften Petitesse namens „Nostalgie“, einem unbetitelten Stück in C-Dur, einem Präludium-Marsch, „Im Wald“, einer Bagatelle, und Drei Stücke: Menuett – Präludium – Intermezzo. Mutige Fingergelenksübungen im Zeitgeist eines eminenten Pianisten, der die Finger spreizen möchte. Der sich aber gern auch an die Romantik des 19. Jahrhunderts erinnert. Masleev spielt diese Fragmente aus einer Komponisten-Werkstatt mit zurückhaltender Spannung und elegantem Anschlag.

Schließlich geht es wieder zurück nach Gorisch, und jetzt darf auch Yulianna Avdeeva noch etwas uraufführen: Präludium und Fuge cis-Moll, vervollständigt von Krzysztof Meyer. Das ist neuerlich eine düstere Skizze für den Zyklus op. 87, den der Schostakowitsch-Initimus und Biograph Meyer auf Anregung von Schostakowitschs Witwe Irina kürzlich komplettiert hat – inklusive eigener Fuge. Die nach wie vor vom Konzertbetrieb unterschätzte Avdeeva spielt sie mit großem Schwung und souveräner Geste.

Der Livestream ist auf den Webseiten von MDR und Arte Concert sowie auf dem Youtube-Kanal der Deutschen Grammophon noch drei Monate lang verfügbar.

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