Pizzaschachteln in der Rokoko-Box: Calixto Bieito inszeniert in Genf Prokofiews „Krieg und Frieden“ als böse Abrechnung mit dem heutigen Russland

Fotos: Carole Parodi

Ein Stück so brutal und großmäulig, so verloren und anmaßend, so propagandahohl und beziehungszart, ja, eben so ambivalent wie das 20. Jahrhundert. Das ist Sergej Prokofiews nicht nur in Deutschland äußerst selten gespieltes, sowjetpopulistisch durchwirktes und trotzdem bei den damaligen Machthabern durchgefallenes Schmerzenskind „Krieg und Frieden“. 14 Damen- und 45 teils episodische Herrenrollen sieht dieses ungekürzt mindestens viereinhalb Stunden dauernde Liebes- wie Schlachtenepos nach dem ausufernden Zeitpanorama-Roman von Leo Tolstoi vor. Vermutlich die monumentalste Oper der Musiktheatergeschichte. 1941 wurde sie unter dem Eindruck des Einfalls der Deutschen als patriotisches Fanal begonnen, bei Prokofiews Tod 1953, am gleichen Tag wie Stalin, war sie immer noch nicht vollendet.

Am Genfer Grand Théâtre hat Rebecca Ringst, sonst bekannt für stählerne Kletterparcours, einen rotweißgold leuchtenden Rokoko-Salon als kostbare Schachtel auf die Bühne gestellt. Links und rechts davon singt schemenhaft der Chor. Und in der feudalen Kiste aus dem 18. Jahrhundert lässt Calixo Bieito mit große Souveränität die von allen Vokalprotagonisten simultan gespielten Geschehnisse zwischen Leidenschaft und Kampf um Napoleons Russlandfeldzug 1812 ohne jeden Szenenwechsel im fernen Spiegel der materialistisch grellen wie vulgären Moskauer Oligarchengesellschaft von heute ablaufen.

Deren handelnde Personen freilich sind, zunächst bewegungslos auf Sofas und Sesseln im Raum verteilt, nur als Lemuren unter Plastikfolien zu sehen. Der desillusionierte Andrej der toll spielenden und ebenso geschmeidig sehnig singenden Björn Bürger ist der erste, der sich freikämpft, Mensch wird. Auch wenn er es hier gar nicht mehr sein mag. Dann folgen Natascha (die sehnsuchtsvoll-intensive Ruzan Mantashyan) und ihre Cousine Sonia (mezzowarm: Lena Belkina). Natascha, im einfachen gelben Hängekleidchen gegenüber den kreischbunten Roben ihrer Klassengenossinnen (von Ingo Krügler), schwebt als Kind der Natur durch die immer mehr sich belebende Szenerie. Feingewebt ist ihre schnell aufkeimende Liebe zu Andrej, der sich nicht entscheiden kann, sie schließlich nach einem Selbstmordversuch mit blutenden Füßen in die Arme Anatols (standhaft stattlich: Ales Briscein) treibt.

Der zweifelnd-zaudernde Pierre (Daniel Johansson), die matronenhafte Gesellschaftsdame Hélène (Elena Maximova), die abgehalfterte Maria (Natascha Petrinsky), der alte Graf Rostov (Eric Halfvarson), der hochgewachsene Prinz Bolkonski (Alexey Tikhomirov), der schrille Denissov (Alexander Roslavets), sie alle schaffen sich in dem wie neu strahlenden Gemach Raum – und leben doch nur ihr ödes Partyleben. Erst kämpfen sie gegen die Plastikfolien, dann spielen sie mit Pizzaschachteln, deren glänzende Innenseiten sie als moderne Spiegelartefakte an die historischen Wände heften. Bieito führt das verwirrend wie zynisch langatmig vor, ohne die Liebesgeschichte dieses ersten Frieden-Teils aus dem Regiefokus zu verlieren. Und hinten lauert im Videospiegel schon das aufziehende Unheil in Gestalt Napoleons.

Sie alle werden, begleitet von immer massiver anschwellenden patriotischen Gesängen des jetzt das feudale Zimmer enternden Volkschors, im Krieg nicht dieselben bleiben. Calixto Bieito braucht die enervierende Ruhe des Anfangs um jetzt die Ängste auszustellen, die nicht nur den Salon auseinandersprengen und seine Einzelteile in der Luft des Bühnengestänges hängen lassen. Vorne bekommt der pompöse, sich in einen Theatervorhang hüllende Napoleon (Alexey Lavrov) die Bolschoi Oper aus Bauklötzen aufgeschichtet und schnell wieder zerstört. Zwischen den zu Barrikaden geschichteten Möbeln irren nicht nur die eben noch so selbstsicheren Figuren herum, da tappt auch, fast nackt, in verpisster Unterhose, der weltweise Platon (Alexander Kravets) als Gottesnarr einher.

Und rechts sitzt vor einem gläsernen Schachspiel, ganz in Weiß, als Einpeitscher der Marschall Koutouzov (grandios machtvoll: Dmitri Ulyanov). Später, nach dem sich Andrej und die endlich emanzipierte Natascha doch noch zu seinem Sterben gefunden haben, wird der zu einer Art Sektenführer. Vor mit grünen Digitallettern heiß laufenden Videowänden unterwirft sich ihm das gleichgeschaltete, gehirngewaschene neue Russland – wie die ebenfalls über eine Leinwand wuselnden Insekten. Ein gruseliges, ganz ohne die naheliegenden Putin-Bezüge auskommendes Finale.

„Krieg und Frieden“, mit seinem an „Cinderella“ gehmahnenden traurigen Walzer als Cantus-Firmus, es ist in Genf aber auch ein trotziges Jetzt-erst-Recht, ein theatermutiger Gegenentwurf gegen das Corona-Hygiene-Kleinklein. Mit einem Riesenensemble teils ungeimpfter Osteuropäer, groß gedacht und intelligent gewonnen.

 Und diese so unerhörte Oper, sie klingt fast immer spannend, knallig, wenn es musst, fein und melancholisch, wenn es darf. Und stets macht sich da dieser typische Prokofiew-Ton breit: trocken, sachlich, sarkastisch, auch mal lärmig vulgär, alle Stile des 20. Jahrhunderts amalgamierend und doch ein eigenes Idiom treffend. Genau den trifft auch Alejo Pérez am Pult des seit 18 Monaten hier erstmals wieder in großer Besetzung aufspielenden Orchestre de la Suisse Romande mit fast schlachtenführerhafter Akkuratesse und Weitsicht. Alles im Griff! Der dreieinhalbstündige (und trotzdem um 40 Minuten eingestrichene) Abend ist der glänzende Sieg Perez‘ samt seiner motivierten Orchestertruppe angesichts Napoleons Niederlage im brennenden Moskau.

23 Solisten und fünf Solo-Choristen verbeugen sich am Schluss vor dem anhaltend jubelnden Publikum. Eine Musiktheater-Großtat, fürwahr. Und eine faszinierend vielschichtige, Geschichte des 19. wie des 20. Jahrhunderts eindrücklich widerspiegelnde Oper, die weit mehr ist als nur ein Sowjetmachwerk, wie so gern verkürzt. Und die endlich mal wieder auch einer Berliner Opernbühne gut anstünde… Zumindest in München kommt „Krieg und Frieden“ 2023 unter Vladimir Jurowski erstmals an der Bayerischen Staatsoper heraus. Der in Genf anwesende Regisseur Dmitri Tcherniakov versprach, dann zur Komplettfassung auch alle weiteren, noch in Moskauer Archiven schlummernde Partiturreste zu integrieren. Wenn das mal (k)eine Drohung ist!

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