Spaß, Freiheit, Autorität und Identität: Tobias Kratzer inszeniert in Frankfurt Nielsens „Maskerade“

Fotos: Monika Rittershaus

Deutsche mögen Dänen nicht, und Dänen wollen von Deutschen kaum was wissen. Wie sonst wäre es zu erklären, dass sich beide Länder, obwohl Nachbarn, in musikalischer Hinsicht so ignorieren? Wobei die Dänen an deutschen Klassikern und Romantikern nicht vorbeikommen, auch einige Komponisten wie Schulz, Kunzen, Weyse, Kuhlau importiert und naturalisiert haben. Doch umgekehrt ist die Ausgrenzung ausschließlicher. Zeitgenössische dänische Tonsetzer wie Poul Ruders und Per Nörgard fristen hier ein noch stärkeres Außenseiterdasein als unsere Modernen.

Und nicht einmal ein international anerkannter Komponist wie Carl Nielsen ist in deutschen Konzertsälen heimisch. Dabei ist der Spätromantiker (1865-1931) dank Dirigenten wie Leonard Bernstein und Herbert Blomstedt im angelsächsischen Raum neben dem Finnen Sibelius als Sinfoniker durchgesetzt. Auf hiesigen Programmen taucht er zwar auf, doch noch wird seine schwerblütige Melodik, seine eigenwillige Satztechnik und Instrumentierung von deutschen Dirigenten ignoriert, obwohl kein Adorno-Verdikt wie im Fall Sibelius die Verbreitung hinderte.

Und nachdem sich zuletzt vor 16 Jahren in Bregenz David Pountney um Nielsens zweites Musiktheater „Maskerade“ bemüht hatte (immerhin mit DVD-Aufzeichnung), hat jetzt die Oper Frankfurt diese reizvolle Spät-Buffa reinsten Komödienwassers neu – und hoffentlich endlich einmal nachhaltig – wiederentdeckt. Immerhin ist mit Tobias Kratzer einer der besten deutschen Opernregisseure am Start, zudem hat man eine neue deutsche Übersetzung bei dem Regisseur (und Sondheim-Spezialisten) Martin G. Berger in Auftrag gegeben. Der endreimt-oder-ich-fress‘-dich kalauerresistent auch über zehn Verszeilen hinweg; was beständig für zusätzliche Lacher sorgt (und für ein paar spießige Buhs am Schluss).

Kratzer hingegen nimmt sich konzeptuell zurück, gibt großzügig wie könnerisch dem Witzaffen Gagzucker und lässt sein spielfreudiges Personal höchsteffizient am langen, virtuos manipulierten Puppenspielerfaden baumeln. Handwerklich ist das ganz groß, weil er auf quasi leerer Bühne beständig aufs Tempo drückt, ohne zu hetzen, seine typisierten Figuren wie im Rausch dem Traum nach der Maskenverwandlung als Flucht aus ihrem vorhersehbar getakteten Bürger- und Familienleben hinterherrennen lässt. Und nicht nur die beiden Liebenden Leander (Tenordrückeberger: Michael Porter) und Leonora (süßer Sopran: Monika Buczkowska) entdecken auf der ewigen Party vor allem sich selbst als verhasste, längst von den Vätern Verlobte. Obwohl jeder eine anderer sein möchte, sie zum Beispiel die grünhaarstichige Billie Eilish.

Das alles ereignet sich in einer einheitsgrauen Simpelkulisse (von Rainer Sellmaier) aus möglichst vielen Türen (nach der Pause spiegelnd) in drei halbhohen Wänden mit übergroßem Übertitelungsbalken, der später auch als Pissoir dient. Dafür wird dann bei den Kostümen aufgedreht, wenn sich die Kopenhagener Kleinstadtgesellschaft im Taumel der Verkleidung verliert oder wenigstens besäuft. Da eilt die immer noch rüstige Mama  Magdelone (rührend ex-hochdramatisch: Susan Bullock) als Minnie Maus zur flotten Sause und landet dort in den Armen des Schwiegervaters in Spe als Björn Borg (starker Vokalaufschlag: Michael McCown). Leanders agiler Diener Henrik, der eigentliche Spielmacher (vorzüglich artikulierend: Liviu Holender) wechselt seine Identität in Richtung Plateausohlen-Popstar, während seine Angebetete Penille, Leonoras Zofe (beste Frankfurter Opernschule: Barbara Zechmeister), plötzlich Faschingsprinzessin ist. Und als Kratzer-Selbstzitat trampelt sogar das Gelbe Bibo-Outfit der Bayreuther „Tannhäuser“-Drag Queen über die Szene.

Im Hintergrund geht es also höchst divers zur Sache, Identität bezieht sich nicht nur aufs Aussehen, sondern auch augenzwinkernd trendy aufs Geschlecht. Selbst der Nachwächter als Hüter der Ordnung (Bozidar Smiljanic) schmeißt Paillettensternenstaub und hat auf dem T-Shirt stehen: „Be whathever you want to be“. Ganz vorn an der Moralfront agiert freilich Papa Jeronimus (kontrolliertes HB-Männchen: Alfred Reiter), assistiert von seinem doofen Diener Arv (pure Selbstverleugnung: Samuel Levine), ganz in steingrau, aber mit Pappnase. Und auch er verliert sich im Taumel der identitätsbefreiten, als Lustventil rauschenden Ballnacht, um am Ende reuevoll seine flüchtende Frau zu suchen. Niemand wird hier denunziert, alle aber sind sie entlarvt.

Der Reiz dieses prächtig gebauten Stückes liegt vor allem im Gegensatz zwischen einer alten, 1724 vom dänischen Nationaldichter Ludvig Holberg geschriebenen Commedia-Vorlage üblicher Verwechslungskonstellationsordnung und der scheinbar rückwärtsgewandten, dabei höchst raffiniert modernistischen Musik von 1906, die feinsinnig mit Stilen und vor allem Tänzen spielt. Eine Balletttruppe (Choreografie: Kinsun Chan) ist deshalb in den spielwütigen Chor verwoben, am Anfang und Ende sind alle monochrom in Unterwäscheweiß, müssen erst ihre verkaterten Siebensachen zusammenklauben.

Dabei unterstützt sie aufs Schönste klangsüffig der sonst für Moderne zuständige Titus Engel am Pult des pralltönenden Opern- und Museumsorchesters. Das blinkt und funkelt, keckert, brummt und summt, gleitet sämig süffig streicherzart dahin. Auf dunklem Untergrund freilich. Ein herrlich leichtgewichtiger, vergnüglich komischer, trotzdem substanzreich talentvoller Opernabend über Spaß, Freiheit, Autorität und Identität. Hierzulande eine Seltenheit!

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