Vom Roman zur packend zeitgenössischen Rassismus-Oper: Kris Defoort hat in Brüssel Richard Powers‘ „The Time Of Our Singing“ vertont

Fotos: Bernd Uhlig

Da macht die Metropolitan Opera ein Riesensache draus, dass am 27. September, der monetär so wichtigen Opening Night (nach 18 Monaten Schließzeit) erstmals in der 138-jährigen Geschichte des Hauses die Oper eines schwarzen Komponisten gespielt werden: „Fire Shut Up in My Bones“ von Terence Blanchard. Die vertonte Lebensgeschichte des schwarzen, bisexuellen „New York Times“-Kommentator und „Black News Chanel“-Anchor Man Charles M. Blow hatte nach ihrer Uraufführung 2019 an der unbedeutenden Oper in St. Louis nicht wirklich Schlagzeilen gemacht. Und so beruhigt jetzt die rigid weiße Ostküstenhochkultur ihr schlechtes Gewissen mit diesem eher obskuren Werk eines bisher vor allem als Jazztrompeter und Filmmusiklieferanten bekannten Komponisten. Ob dafür die dringend in dem 4000-Plätze-Haus benötigten Zuschauer Schlange stehen oder lieber auf „La Bohème“ warten werden, das wird sich zeigen…

Längt ihre Hausaufgaben gemacht hat die sowieso sehr uraufführungsfreudige Brüsseler Oper, das Théâtre de la Monnaie. Da sollte schon letztes Jahr Kris Defoorts neue Oper auf die Bühne kommen – Corona hat es verhindert. Der 1959 geborene Jazzpianist und Komponist hat sich ja schon länger dem Theater und der Oper zugewandt, die Monnaie hat bereits 2009 „The House of Sleeping Beauties“ aus der Taufe gehoben, 2014 feierte seine Zirkusoper „Daral Shaga“ Premiere.

„Meiner Meinung nach kommt es nicht oft vor, dass eine zeitgenössische Oper so tief im ,Jetzt‘ verwurzelt ist und doch so viele universelle Themen aufwirft“, so lässt sich Kris Defoort über sein jüngstes Musiktheater in drei Akten zitieren, das es auf immerhin drei Stunden Spieldauer bringt. Und angesichts von Black Lives Matter, Polizeibrutalität, und einer tief zerrissenen, politisch gespalteten amerikanischen Gesellschaft samt ihrem ungelösten Rassenproblem scheint seine Themenwahl spannend: Defoort hat sich den 2003 enorm erfolgreichen Richard-Powers-Roman „Der Klang der Zeit“ vorgenommen, im Original, so wie auch der Operntitel „The Time of Our Singing“. Also nichts Mythisches, kein Shakespeare, wie so gern in der Oper, sondern ein stark zeitgenössisches Themenbekenntnis.

Auch wenn das hier als Familiensaga einer gemischtrassigen Familie erzählt wird, die durch die Musik vereint und gespalten ist, vor dem Hintergrund der Segregation in den USA der Nachkriegszeit – von 1939, als die schwarze Sängerin Marian Anderson vor dem Lincoln Memorial sang, bis ins Jahr 1992 und den Polizeikrawallen in Los Angeles. Das Gestern hat sehr viel mit dem Heute zu tun, auch wenn Teile der Strom-Familie lange glauben, das negieren zu können.

Im Zentrum geht es um das Leben von zwei musikalisch äußerst talentierten Brüdern, Jonah und Joey, Söhne des deutsch-jüdischen Physikers David Storm und dessen schwarzer Ehefrau Delia aus Philadelphia, die sich in Washington bei dem Anderson-Konzert kennen und lieben gelernt haben. Den politischen Vordergrund bilden der amerikanische Rassismus und die Bürgerrechtsbewegung. Hauptthema jedoch ist die alle Geschehnisse durchziehende und durchdringende Kraft und Schönheit der Musik und des Gesangs, deren Emotionalität und Perfektion enthusiastisch beschrieben und, trotz aller Tragik, als letztlich triumphierend gefeiert werden.

Während Delias Vater (kantig: Mark S. Doss) die gemischtrassige Hochzeit verurteilt und nur Schwierigkeiten sieht, tun die Stroms so, als gäbe es keine Diskriminierung. 1952 kommt Delia (anrührend kraftvoll: Claron McFadden), deren Singambitionen versandten, bei einem ungeklärten Hausbrand ums Leben. Ihr Mann (zurückhaltend intensiv: Simon Bailey) stirbt in den Siebzigern an Krebs. Ihre Söhne und die jüngste Tochter Ruth, aber werden immer an ihrem Stand zwischen den Rassewelten zu leiden haben. Jonah (sanftmütig warm: Levy Sekgapane) macht in Europa Karriere, versucht seine Herkunft zu verdrängen. Sein Bruder Joey (direkt und witzig: Peter Brathwaite) wird sein Klavierbegleiter, nähert sich aber immer mehr der rebellischen Ruth (poppig schlank, gern mit Mikrophon: Abigail Abraham) an. Die hat einen Anhänger der Black Panther geheiratet, der in New York von der Polizei erschossen wird. In San Francisco eröffnet sie schließlich eine Schule für farbige Kinder, an der Joey lehren wird.

Der Librettist Peter Van Kraaij hat den 800-seitigen Roman geschickt gekürzt, aber dennoch ist die Oper noch ein wenig zu lang. Kris Defoort hat eine Kammeroper für kleines Klassikensemble und eine Jazzband komponiert. Kwamé Ryan am Pult fächert diese eigenwillig intelligente Musik exzellent auf und bringt sie selbst in den spröderen Passagen zum Blühen.

Da gibt David Zobel an seinem Klavier auf der Bühne, das die Musik der Zeit symbolisiert, den Anfangston vor, in den gleich ein Saxophon fällt. Das geht moderat modern in Klangwirbeln voran, dann übernimmt wieder Jazzperkussion und Piano, der Gesang ist meist parlandohaft, kennt aber auch Rap und Soul. Oft wird gesprochen, das Wort dominiert, nur Wut und Verzweiflung finden expressiveren Ausdruck. Geschickt sind auch klassische Melodien von Puccini bis Purcell eingestreut. Gesungen und gespielt wird das großartig dicht und in jedem Moment total überzeugend.

Zumal sich der amerikanische Regisseur Ted Huffman, ähnlich wie in Wilders „Kleine Stadt“, für eine völlig antinaturalistische Inszenierung entschieden hat. Im Arbeitslicht sehen wir auf der leeren Bühne von Szenographen-Nestor Johannes Schütz nur ein U aus weißen Tischen. Dahinter hängt meist weiß eine Digitalscreen über die dokumentarische Szene und die Jahreszahlen laufen. Alle, auch die längst toten, tragen ihre Requisiten und Kostüme selbst hinein und wieder raus, ziehen sich auf offener Szene um. Und packen am Schluss alles weg, schichten die Tische zu Barrikaden für die Los-Angeles-Krawalle auf, während denen auch der dort gerade gastierende Jonah die Bestimmung seiner Herkunft anerkennt, verletzt keine Hilfe holt und im Hotel stirbt. Es ist keine Musik mehr, sein Atem verlischt.

Das ist ein starkes bleibende Ende für eine starke, trotzdem auf Distanz haltende Oper, die sehr bewusst, auch in ihrer Raffung melodramatisch, das Heute verhandelt, die Heuchelei des so gern beschworenen American Dream entlarvt und trotzdem die Schönheit und Kraft der Musik auf ganz eigene, neue Weise zu feiern versteht. Schön, dass Operavision solches bald auch auf ihre Digitalplattform holen und ausstrahlen wird.

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