„Thaïs“ erstmals auf französisch an der Scala: Olivier Py macht christliches „Crazy Horse“, Lorenzo Viotti rührt diszipliniert in der Himbeersoße

Fotos: Brescia/Amisano – Teatro alla Scala

28 Opern als stimmig tönender Beleg einer Zeit. Während die damals in der Kunst noch tonangebende Opernwelt des späten 19. Jahrhunderts in den Nachwehen des Wagnerrausches lag, sich den gewöhnlichen Genüssen des italienischen Verismo mit seinen bewusst alltäglich-rustikalen Themen hingab und der alte Großmeister Giuseppe Verdi fast schon verstummt war, stieg Jules Massenet zum Komponistenkönig der Belle Epoque auf: Seine Musik aus Eleganz und Raffinement, Üppigkeit und sinnlicher Delikatesse, theatralischer Intensität, harmonischem Reichtum, Effektivität und Knappheit huldigte besonders den Sopranistinnen – worin Richard Strauss sein legitimer Nachfolger wurde – und sie hatte den sprichwörtlich französischen Chic und Charme.

Das musste sogar Claude Debussy zugeben, der ihm, dem „Fabrikanten klingender Himbeersoße“, nicht sonderlich gewogen war. Nach Jules Massenets Krebstod vor 110 Jahren fielen freilich die meisten Werke des eben noch so beliebten Modekomponisten und Meisters der Melodie, trotz diverser, aber eben nur halbherzigen Wiederbelebungsversuche, dem schnellen Vergessen anheim.

Überlebt haben eigentlich und trotz Puccini nur „Manon“ und der lange verkannte „Werther“. Mit der zweiten Massenet-Reihe begnügen sich der für Fjodor Schaljapin geschriebene „Don Quichotte“ und die der damaligen US-Primadonna Sybil Sanderson vokal auf den Leib drapierte „Thaïs“ von 1894. Selbst an einem genuinen Sängertheater wie der Mailänder Scala wurde sie bisher nur einmal aufgeführt – 1942 in italienischer Sprache mit Mafalda Favero und Gino Bechi sowie der jungen Giulietta Simionato.

Die erste Scala-Produktion im französischen Original wurde jetzt von Intendant Dominique Meyer eingetütet und er wählte praktischerweise dafür als Regisseur den schwulen, katholischen Olivier Py für dessen Italiendebüt aus. Denn bei Sex und Religion liefert der schon seit langer Zeit verlässliche Abziehbilder und immer wieder austauschbare Metaphorik mit leichtbekleideten Statisten. So ging auch an der Scala, das konservative Publikum war durchaus angetan, diese Rechnung auf – obwohl schon nach wenigen Vorspieltakten der erste Busen einer „Crazy Horse“-Animateurin unter einem Neonkreuz hervorblitzte.

Die schwülstige Geschichte vom mönchischen Wüsteneremiten Nathanael, der in seiner Heimatstadt Alexandria die große Kurtisane Thaïs zum christlichen Glauben bekehrt und bis in Tod begleitet, obwohl er ihren Verführungskünsten durchaus nicht abgeneigt ist, bebildert Py mit seinem handelsüblichen Eros-Arsenal so routiniert wie kurzweilig. Was dazu wohl die Phalanx prominenter Stofflieferanten von Terentius über Dante und Roswitha von Gandersheim bis Anatole France (die Hauptquelle) und Borges gesagt hätte?

Die im Grunde nüchterne Ausstattung stammt von Pys Dauerdesigner Pierre-André Weitz, der gern zwischen schmutzigen Backsteinmauern, Gerüsten mit Goldpapierschauseiten, Laméevorhängen, Treppen, Neonschriften und Glühbirnen variiert. Das verwandelt sich schnell wie variantenreich mit wenigen Kulissenteilen von der trostlosen Wüstenei mit dunklen Phototapetenwolken ins Tingeltangel und ein rotglühendes Baumdickicht. Leidenschaft und Glaubensekstase, Orientalistiknebel und Weihrauch ziehen in echten wie klingenden Schwaden vorüber.

Beinahe alle Frauen, egal ob singend, tanzend oder Choristin, sind hier Huren in Straps und Korsett, meist mit noch weniger an; einige wenige frömmeln später auch als Heilsarmistinnen. Die zwischen den zwei Bildern des zweiten Aktes und damit diesmal vor der Pause stehende, violintremolosatte Méditation als bekanntestes Stück der Oper verwandelt allerdings der Choreograf Ivo Bauchiero in ein erschreckend banales Pas de Deux, in dem ein knapp bekleidetes Tänzerpaar das Schicksal der beiden Protagonisten in triefigen Ballettposen vorwegnimmt.

Diese freilich haben entschieden mehr am Leib und werden trotzdem ihren klischeetriefenden Rollen mehr als nur gerecht. Marina Rebeka, längst eine der verlässlichsten, stilistisch vielfältigen Sopranistinnen, singt in rotem Glitzerstoff, ebensolchen Flügeln und mit wallenden Locken als feuriger Engel die ehrbare Dirne. Auf den rechten Glaubensweg abgebogen, entsagt sie diesem Handwerksputz und tritt nun in härenem Schwarz den Pfad der Buße an. Jetzt koloraturglittert ihr nur noch die in eine mexikanische Diá de Muertos-Skelett-Queen als makabres Memento Mori verwandelte La Charmeuse (Frederica Guida) unheilig-heimelig heim. Die Rebeka ist ein der Sinnlichsten nicht, aber sie holt trotzdem aus der dankbaren Rolle viele Schattierungen heraus, fesselt selbst im etwas kaugummizähen, hübsch auf einem kargen Bett hindrapierten Sterben mit leisen, intensiven Tönen.

Wie so oft in diesem Corona-Tagen musste der eigentlich als Athanaël vorgesehene Ludovic Tézier (er sing wohl die Rolle konzertant im April in Paris an der Seite von Ermonela Jaho) wegen Krankheit passen. Sehr guter Ersatz fand sich in dem Amerikaner Lucas Meacham. Der gefällt mit großer, doch weicher, gut durchhaltender Stimme. Als Gottesmann singt er – er ist gar kein wirklicher Liebhaber, höchstens in Gedanken – Bariton und darf sich bei Py auch von einer Venus am Varieté-Kreuz (Jesus ist schnell abgängig geworden) locken lassen – so wie das sich Felicién Rops schon für den heiligen Antonius gemalt hat. Meist trägt er Anzug und eine Art Mantelsoutane, greller kommt sein der Thaïs verfallener Freund Nicias daher. Mit etwas eindimensional hellem Tenor gibt ihn Giovanni Sala als genderfluiden Nachtvogel in Stöckelschuhen, Smoking und Perlenkette.

Auf der Massenet-Habenseite steht – neben den soliden Comprimarii und dem engagierten Chor – vor allem Lorenzo Viotti. Der waltet nach einer Gounod nun zum zweiten Mal am Scala-Opernpult. Und veredelt neuerlich diese großartig zweitklassige, gefühlig-scheinheilige Musik. Statt Doppelrahmstufe kontert er mit rhythmischer Finesse bei großer Gestik, nie lässt er das sinnlich dampfende Instrumentalgebräu zu dick köcheln. Das Fleischliche bleibt im Topf. Da hat sich das Fitnessstudio auch interpretatorisch ausgezahlt. Straff und unsentimental war dann auch in der Generalprobe am nächsten Morgen sein Konzertzugang mit der Filarmonica della Scala im Tschaikowsys Serenade für Streicher und Rachmaninows 2. Sinfonie.

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