Russische Kinder im Tschaikowsky-Opernkrieg: Am Abend des Einmarschs in die Ukraine dirigierte Putins erster Kultursoldat Valery Gergiev an der Mailänder Scala fast ungeprobt „Pique Dame“

Fotos: Brescia-Amisano / Teatro alla Scala

Diese gestrige „Pique-Dame“-Premiere an der Mailänder Scala war aus zwei Gründen bemerkenswert. Valery Gergiev dürfte nun auch dort der erste Dirigent sein, der eine Neuinszenierung einzig mit der Generalprobe wuppte. Und das musikalisch erstklassig. Mit einer dunklen, satten Farbenpalette aufgewühlter Gefühle, davongetragen vom Sog der Ereignisse, so wie sich der spöttische Alexander Puschkin ausgedacht hatte. Und wie sie dann Peter Tschaikowsky mit seinem Bruder Modest als Librettist sentimentalisiert, aber eben auch dämonisiert haben.

Zum zweiten aber stand hier, während in der Nacht die russischen Truppen in der Ukraine wider jegliches Völkerrecht einmarschierten, Vladimir Putins Klassik-Lordsiegelbewahrer am Pult. Der sich für die Annexion der Krim ausgesprochen und bei „Friedenskonzerten“ dort und im antiken Theater von Palmyra in Putins Auftrag den Stab geschwungen hatten. Und der jetzt, auf einer logistisch absurden, gewiss nicht sonderlich grünen Tournee der Wiener Philharmoniker, nach einem ersten Deutschland-Teil ab dem 25. Februar (ein weitere Putin-Büttel, der Pianist Denis Matsuev, ist auch dabei) drei Tage lang in der New Yorker Carnegie Hall auftreten wollte, bevor es für zwei Konzerte nach Naples/Florida weitergehen soll, ohne jede Probe antrat.

In Mailand gab es, als Gergiev immerhin pünktlich im Orchestergraben erschien, zwei kleine Buhs, sonst nur Jubel. Und die Wiener Philharmoniker setzten später eine floskelhafte Erklärung ab: „Mit Maestro Gergiev verbindet uns eine jahrzehntelange künstlerische Partnerschaft. Die steht absolut im Vordergrund. Die Kultur darf nicht zum Spielball von politischen Auseinandersetzungen werden. Daher werden wir auch keine Kommentare zu politischen Themen in Bezug auf unsere Dirigenten oder Solisten abgeben. Die Musik hat für uns immer etwas Verbindendes und nichts Trennendes. Wir verurteilen jede Art von Gewalt und Krieg“.

So lautet das vorhersehbare Statement von Daniel Froschauer, Vorstand der Wiener Philharmoniker. Es hat ihm nichts genützt. in den späten Abendstunden hat die Carnegie Hall Fakten geschaffen und ihrerseits Gergiev und Matsuev quasi rausgeschmissen. Yannick Nézet-Seguin wird übernehmen. Und die Wiener, die natürlich ihrer kolportierten 350.000 Dollar pro Konzert unbedingt mitnehmen wollten, sind jetzt natürlich die moralisch Düptierten. Geld stinkt halt nicht, eine gute Gesinnung für sie offenbar schon.

Und in Mailand, hatten, was freilich im Nachhinein besonders übel aufstößt, unmittelbar vor dem Ukraineangriff Kinder Opernkrieg spielen. Denn schon die russischen Gouvernanten wissen es erwartungsfroh: „Da kommen unsere Krieger, unsere kleinen Soldaten! Wie ordentlich! Tretet beiseite!“ Und dann bläst es im St. Petersburger Sommergarten plötzlich zum russischen Angriff – zum Glück nur gespielt. Doch die Jungs singen, anders als im viel harmloseren Kinderchor-Vorbild „Carmen“, ziemlich aggressiv: „Wir sind hier alle versammelt, den russischen Feinden zur Abschreckung. Böser Gegner, hüte dich, mach dich davon mit deinen üblen Absichten. Oder unterwirf dich. Hurra! Das Vaterland zu schützen ist unser Los. Wie stehen bereit, zu kämpfen und die Feinde ohne Zögern gefangen zu nehmen.“

Normalerweise zieht das so vorüber, Oper eben, ein fern aus dem frühen 19. Jahrhundert herüberscheinenden Genrebild. Erzählt wird von dem mittellosen deutschen Soldaten Hermann, den seine Spielsucht zu einer alten Gräfin treibt, die geistig noch tief in ihre Jugendzeit im Rokoko lebt, die aber ein Kartengeheimnis kennt, das immer siegen lässt. Am Ende sind Herrmann, der natürlich verliert, und die Gräfin tot, auch Lisa, ihre Nichte, die er nur benutzt hat, um an die Alte heranzukommen.

Gut, eine solche Premierenkoinzident war vor mehreren Wochen Probenbeginn noch nicht zu ahnen. Die zahn- wie zeitlose Inszenierung zwischen Neonröhren, Spiegeln, Nebel und ein paar Lüstern besorgte der als Burgtheaterdirektor geschasste Matthias Hartmann, der inzwischen – wie auch Sven-Eric Bechtolf – als Opernexilant in Italien arbeitet. Auf der Bühne stehen, angeführt von dem litauischen Sopranstar Asmik Girgorian als Lisa, nur Osteuropäer, Russen zumeist, der starke Tenor Najmiddin Mavlyanov kommt sogar aus Samarkant.

Mavlyanov kämpft bisweilen mit der Höhe, wird aber zum Schluss hin bis zum Selbstmord im Spielsaal als Charakter immer besser. So wie Asmik Grigorian als Lisa fasziniert, auch wenn sie manchen Spitzenton mehr schreit als singt. Diese Sängerin kommuniziert sofort und direkt mit ihrem Publikum, sie macht dieses verschlossene, verliebte und schrecklich enttäuschte, ins Newa-Wasser gehende Mädchen packend glaubwürdig. Leider hat sie ihre Mitwirkung an der „Pique Dame“ von Krill Petrenko und den Berliner Philharmonikern zu den Osterfestspielen Baden-Baden eben abgesagt. Auch die beiden militärischen tiefen Männerstimmen sind in Mailand mit dem geschmeidigen Roman Burdenko (Tomsky) und dem raueren Alexey Markov (Yeletsky) hervorragend besetzt.

Als alte Gräfin ging der Scala hingegen sowohl Olga Borodina als auch Violeta Urmana verloren. Als dritte Pique-Dame und ehemalige russische Venus in Paris kam nun die eigentlich noch zu jungen Julia Gertseva höchst würdevoll und stimmlich changierend ins Spiel; bei der letzten Scala-Premiere 1994 war sie noch die Lisa-Freundin Polina (diesmal: Elena Maximova) gewesen. Jetzt darf sie am Ende des Ballbildes statt der Zarin die Treppe herabsteigen. Und in ihrem Gemach enthüllt sich kurz vor der tödlichen Begegnung mit Hermann keine haarlose Mumie, sondern eine hübsche Frau entfernt Feuchtigkeitsmaske und Verkleidung, ist immer noch jung. So wie ihr längst Staub gewordener Galan, der Graf von Saint-Germain, der ihr einst das Kartengeheimnis verraten hatte, als Party-Gastgeber stumm präsent war und am Ende, aus einem Neonrundtisch auftauchend, Hermanns Spielkarte durch die fatale Pique-Dame ersetzte.

Das sind ein paar Regiegags, die zünden, auch wenn sie nirgends hinführen. Sehr zäh gerät der Abend aber viel zu lange Tschaikowsky-Zeit. Allzu austauschbar minimalistisch wirken Volker Hintermeiers Sets aus sich drehenden Türmen, die neben Neon und Spiegeln, auch noch weiße Walletücher und schwarze Polsterflächen im Repertoire haben. Schwarz sind auch Malte Lübben wenig hermachende Kostüme, in denen der Chor eher linkisch geparkt wird. Hell leuchtet dann nur der Ballakt, wo nebst einer hinternwackelnden Unisex-Sartyrtanztruppe für das Pastoral-Intermezzo in Mozart-Manier der Chor in billiger Rokoko-Teilverkleidung albern herumtobt.

Auf besonders schöne Weise wird hingegen durch Valery Gergiev dieser vielfältig-klangfeinen Partitur gehuldigt. Vom ersten Takt an herrscht großflächig weiche Eleganz, Holzbläser-Zartheit und Akkuratesse. Im weiteren Verlauf werden zuhörens die sinister abgründigen, fatalistischen Farben dieser eigentlich so bunten Partitur betont. Immer lauter rumort der Mahlstrom des Schicksals. Es regiert massives Moll, scharfes Schwarzweiß. Im dritten Teil, wo Tschaikowsky ganz modern mit von Ferne tönenden Begräbnisgesängen, Kasernensignalen, den rollenden Wassermassen der Newa als Atmosphäre anheizende Stimmungsträger arbeitet, verdichtet sich das sogartig zur akustischen Außenseiter-Fallstudie, in der die Darsteller die schwache Regie durch Persönlichkeit veredeln und die Grigorian höchst sportiv von der angedeuteten Kaimauer springt.

Was als Streicher-Elegie beginnt und sich mit dunklen Holzbläserfarben bedrohlich verdüstert, zerfasert schließlich, wird reiner, expressiver Ausdrucksklang. Bis der Komponist sein typisches Tschaikowsky-Finale setzt, ein unbegleiteter Männertotensang, aus dem sich – ein letztes Mal – das violinenleuchtende Liebesthema keusch und üppig zugleich erhebt. Schöne, ergreifende Musik ist das, meisterlich stilsicher, dramatisch-zupackend wie sensibel gespielt.

Gergiev, der es durchaus auch großflächig all fresco liebt hat gleichzeitig untrügliches Gespür, die an Stimmungswechseln reiche, mit vielfältigsten Formen arbeitende Partitur quasi vorauszuahnen. Die Kontraste sind wunderbar platziert und vorbereitet. Besser, sinniger und auch sinnlicher kann man diesen pompösen, aber auch intimen, grotesken wie zärtlichen, dabei dramaturgisch und farbenreich so gekonnten Fünfakter klanglich nicht verlebendigen.

Doch trotz dieses Triumphes: Die Zeiten, als jede Verdi-Oper ein patriotisches Manifest wurde, sind in deren Geburtsland schon lange vorüber. Heute soll es auf den Musikbühnen Italiens möglichst wirklichkeitsfremd zugehen. Hier liebt man halt die bella figura. Doch Mailands Bürgermeister Mailands Bürgermeister Beppe Sala und die Scala stellen Valery Gergiev nun doch erstaunlicherweise ein Ultimatum: Entweder er distanziert sich von den Kriegshandlungen Putins in der Ukraine – oder er wird am 5. März und bei den weiteren Folgevorstellungen gar nicht mehr antreten. Sein junger russischer Assistent Timur Zangiev, der die Premiere so gut vorbereitet hat, soll übrigens ganz hervorragend sein. Die Scala hat ihm bereits ein Konzert angeboten.

Und wir warten ab, wie es angesichts einer neuen politischen Weltlage nun mit Valery Gergiev als Putins Kultursoldat Nummer Eins weitergeht. Den zweiten Rückschlag musste er nun also in New York hinnehmen. Und den dritten bei den Münchner Philharmonikern als deren Chef und teuerster Angestellter der Stadt er wirkt. Die Partnerstadt Kiews hat ihm ein Ultimatum gesetzt: Bis zum 28. Februar muss er sich gegen den Krieg aussprechen, oder er wird gefeuert!

SHARE

2 Kommentare bei „Russische Kinder im Tschaikowsky-Opernkrieg: Am Abend des Einmarschs in die Ukraine dirigierte Putins erster Kultursoldat Valery Gergiev an der Mailänder Scala fast ungeprobt „Pique Dame““

  1. Gibt’s eine Quelle zu der im Artikel erwähnten Abage Grigorians für „Pique Dame“ in Baden-Baden (gemeint sind wohl auch die Berliner Philharmoniker, nicht die Wiener Philharmoniker)? Sowohl auf der Website des Festspielhauses Baden-Baden, auf ihrer eigenen Website und auf der der Berliner Philharmoniker für die konzertanten Aufführungen ist sie Stand jetzt noch gelistet.

    1. Die Quelle kann ich nicht nennen, ist aber glaubwürdig. Natürlich wird das erst offiziell verkündet, wenn man Ersatz hat….

Schreibe einen Kommentar