
Sechsmal Bayreuth Baroque, fünf große Opernpremieren – und jedes Mal versucht Max Emanuel Cencic in seiner Dreifachfunktion aus Festival-Intendant, Regisseur und Countertenor ein weitere, neue Facette der Oper des 17. Und 18. Jahrhunderts vorzuführen. Und das in einem der schönsten historischen Theater der Welt, dem markgräflichen Opernhaus, das mit seinen Trompeterlogen, Treppen und Türen natürlich auch stets eine Rolle als immerwährend prächtige 3D-Kulisse spielt.
Nach Porporas „Carlo il calvo” als Latino-Mafia-Slapstick folgte die tänzerische Bollywood-Hommage „Alessandro nell’Indie“ von Leonardo Vinci, die nächstes Jahr auch im Theater an der Wien herauskommen wird. Dann gab es Händels britisch-puritanische Sittenkomödie „Flavio“ (diese Produktion wiederum wandert weiter nach Meiningen) und letztes Jahr die ernste Tragödie „Ifigenia in Aulide“, neuerlich von Porpora. Und jetzt gingt es für die aktuelle Festspielausgabe ins weiter opernnördliche Italien. Nach neapolitanischen Koloraturergüssen stand diesmal ein anarchisches Frühwerk aus der venezianischen Oper auf dem gustiösen Programm: Francesco Cavallis vergessenes Karnevalsspektakel „Pompeo Magno“ von 1666. Für die musikalische Aufbereitung des Monteverdi-Schülers hat man sich instrumental der besten Experten überhaupt verpflichtet – der Cappella Mediterranea des in Genf unterrichtenden Leonardo García-Alarcón.
Denn, das hat Cencic ganz richtig erkannt. Cavallis Werke, vor allem jene, für die nicht der satirisch-zuspitzende Rechtsgelehrte Giovani Francesco Busanello die brillant-böen Libretti geschrieben hat, sind prallsaftiges Volkstheater, aber auch ein wenig ausufernde Textflächen, wo endlose Rezitative in wenige ariose Abschnitte übergehen. Das muss man den zähen Handlungsbrei zuspitzen, gliedern, inszenatorisch im Fluss halten. Und man muss die meist nur dürr überlieferten Notenlinien instrumental multikolorieren und aufhübschen. Und genau solches passiert hier in bester Ordnung als chaotisch-grelles Bühnentohuwabohu, wo doch jede Bewegung intendiert und probiert ist.

Die undurchschaubare, letztlich unwichtige Story um den römischen Konsul Pompeius, den mal in der Oper vor allem als abgeschlagenen Kopf aus Händels „Giulio Cersare“ kennt, hat Max Emanuel Cencic mit sich selbst in der Hauptrolle nach Venedig in die Renaissancezeit der Opernentestehung verlegt. Was Bühnenbildner Helmut Stürmer die Gelegenheit für eine marmorprächtige Palazzo-Halle gibt, durch die man als Voyeure blicken kann, durch die Gondeln gleiten, die sich auch in einen Außenraum verwandeln kann, wo dauernd die Brechgardinen hin- und hergleiten und hinten auch mal das römische Deckenfresko vom Triumph der Barbarini aus deren Palazzo aufscheint (wo nebenan einst das von der Familie betriebene, 4000 Zuschauer fassende Teatro delle Quattro Fontane stand, das bedeutenden Uraufführungen der römischen Operngeschichte gesehen hat).
Kostümbildnerin Corina Gramosteanu hat hingegen ganz wunderhübsch ihre hinreißend opulenten Kostüme aus Bildern von Tiepolo, Tizian und Veronese kopiert. Als Abbild einer verkehrten Welt tummeln sich zudem neun kleinwüchsige Menschen, die die Großen nachahmen, ironisch überhöhen und parodieren. Vor allem wird von diesen mit Hakennasen, Schweinerüsseln, Doppelkinnen und Buckeln grotesk überhöhten Karikaturen kräftig gerammelt und gestoßen, mit Gummititten geschwenkt, an dicken Schamkapseln gerieben und überhaupt so viehisch agiert, wie es die anderen, vermeintlich ersten Personen in ihrer ewigen Trieberregtheit gerne hätten.

Cencic, der sich selbst als tatterigen, dabei noch erstaunlich vokalvitalen Dogen in Goldbrokat oder Nachthemd ausstellt, dem jegliche Macht aus den zittrigen Fingern gleitet (und der in diesem Outfit sicher noch ein einträgliches Rentnerdasein als Weihnachtsmann oder Onkel Dittmeyer hätte), übermalt sein ausufernd aufgebotenes Personal mit dem Stereotypen der Commedia dell’Arte. Da gibt es Pulcinelle, die auch mal als Sbirren im Kerker fungieren. Während die vier aufgeregt wuselnden Ratsherren das in venezianisch roten Samtroben tun, sind die drei Römer Cesare (Victor Sicard), sein Sohn Claudio (Nicholas Scott) und Crasso (Jorge Navarro Colorado) Pantalone und Dottore. Der Liebhaber von Cesars Tochter Giulia (hier unterbelichtet: Sophie Junker) ist Servilio (merkwürdig heißer: Valer Sabadus) und fungiert hier als behänder Brighella. In Giulia ist auch, eher schwach ausgeprägt, Pompeo verliebt (der sie in der Historie auch heiratete).
Als weiteres Paar der komischen Alten fungieren der Counter-Veteran Dominique Visse als Landsknecht Delfo sowie der drollig-manische Marcel Beekman als Arpalia, eine aus dem Leim gegangene, dauergeile Colombina-Variante zwischen den bösartigen Zwerglein. Kacper Szelazek hingegen wird als alte Amme Arpalia zum Ende des zweiten Altes fies gemeuchelt.

Einen weiteren Handlungs-Nebenstrang besetzt die Familie des aus Mozarts gleichnamiger Oper bekannten Ponterkönigs Mitridate (mit dunkelsattem Tenor: Valerio Contaldo), ingognito als Capitano ausstaffiert. Seine Frau ist Issicratea, und Mariana Flores setzt sich umstandslos mit gespannt-scharfem Sopran von der Gefangenen im Büßergewand zur goldumhüllten Primadonna ein. Ihren Sohn Farnace gibt, in der Höhe schrill, in der Mittelage angenehm, Alois Mühlbacher als melancholischen Pagliacci; er ist auch der leichtbegleitet flügelschlagende Amor, der am Ende mit einem Genius (Pierre Lenoir) an Ariadnefäden als Deus ex Machina den fast toten Pompeo wiederbelebt. Dessen Sohn Sesto (der schönste und edelste Counter von allen: Nicoló Balducci) macht zudem vergeblich Issicratea feuchte Klimperaugen, behält aber immer bella figura im Edelstoff seines Kostüms.

Obwohl diesen Sommer in Salzburg zwölf Countertenöre beschäftigt und unabkömmlich waren, bietet Max Emanuel Cencic bei Bayreuth Baroque allein in der Oper, sich selbst eingeschlossen, weitere acht auf. Und er hält sein Personal gekonnt zu exaltiert überzeichnendem Spiel an, um den ausufernden Dreiakter am Laufen zu halten. In dem freilich spielt das Orchester ganz klar die Hautrolle: Denn Leonardo García-Alarcón findet unermüdlich neue Farben und Nuancen für diese Musik, lässt da Glöckchen und Schellen schrillen, Zink und Cornetto tröten, Posaunen jaulen, Lauten und Theorben zirpen und winseln. Es ist ein mal lyrisches, mal grelles Gezeter und Gesäusel. Diese Musik tönt so lebhaft und ungefügt wie das Volksleben, das sich auf den venezianischen Bühnen, den ersten öffentlichen überhaupt, breitmachte. Und das Max Emanuel Cenic für seinen „Pompeo Magno“ in Bayreuth als singendes Wimmelbild und dauerbewegtes Opernmosaik souverän eingefangen wie revitalisiert hat.

Nächstes Jahr wird übrigens wieder eine Händel-Oper gespielt, und neuerlich ist ein renommiertes Alte-Musik-Ensemble als Residenzorchester zu Gast. Bei Bayreuth Baroque stehen zwar die Opern im Fokus, aber auch die Konzerte sind klug konzipiert und ein Vergnügen – allein schon wegen der Spielorte: Kirchen im Markgrafenstil – zum Teil im Kerzenschein, kleinere Schlösser in der Umgebung für Gala-Dinners sowie Kaffee- und Dinner-Konzerte. Und natürlich das Opernhaus.
Da empfing einen Tag nach der „Pompeo Magno“-Premiere gleich der nächste, sehr gute Countertenor – Carlo Vistoli. Der setzte – im Verein mit zehn Mitgliedern der Cappella Mediterranea (Streicher, Flöte, Zupfinstrumente, Harfe) und dem Orgel wie Cembalo spielenden Leonardo García-Alarcón – bruchlos die Beschäftigung mit dem recitativo cantante der frühen italienischen Oper fort. Ob als Monteverdis Ottone („L’Incoronazione di Poppea“ oder Cestis Alidoro („L‘Orontea”), Stradellas Nino „(Il Trespolo tutore”) sowie in diversen Cavalli-Partien, Vistoli brachte eine Vielzahl von Charakteren plastisch zum Klingen und Strahlen. Er faszinierte mit seiner in allen Lagen gut durchbildeten, immer harmonisch tönenden Stimme. Der Zauber der „Opera antica“ funkelte grandios weiter im Opernhaus der Wilhelmine von Bayreuth.

Counter Zehn, in Gestalt des Französen Rèmy Brès-Feuillet, okkupierte hingegen im Tagessonnenschein die weiß lichtdurchflutete Schlosskirche mit ihre erst 2019 neobarock gestalteten Deckenmalereien zwischen dem deliziös historischen Stuck. Dorthinauf schwang sich kraftvoll, dabei zart und glockig seine Stimme in virtuos verzierten Arien von Händel, Gasparini, Porpora, Caldara und Alessandro Scarlatti. Dazu begleiteten als Dreierformation Gerd Amelungs I Porporini. Ein Vokalfest, auch wenn der Bezug zum viel jüngeren Romanklassiker „Der Graf von Monte-Christo“ von Alexandre Dumas als Anlass für Freude und Schmerz nicht wirklich sinnfällig wurde.

Bayreuth Baroque erwartet zudem noch Franco Fagioli und Julia Leszhneva, Christina Pluhar mit Marlena Ernman, Suzanne Jerosme, Marina Viotti und die Lautenistin Mónica Pustilnik; aus dem „Pompeo“-Ensemble produziert sich zudem Marina Flores solistisch mit weiteren Cavalli-Arien.

„Pompeo Magno“ kann auf BR Klassik gestreamt werden