Ein Bühnenbild, das eher nach einer Edel-Magazin-Fotostrecke zum Thema Landadel aussieht. Grünblaue Holzwände, die sich beständig drehen, immer wieder neue Raumperspektiven öffnen oder verbergen. Rustikale Stühle, Geweihe, eine ganze Wand voll, auch mal ein monströs toter Hirsch, saftiger Wald. Kostbare Brokatbettvorhänge sind zudem im Deko-Angebot. Eine hippe Jagdgesellschaft auf der Pirsch. Die Beute ist aber eine Frau. Eben noch Englands Königin: Anna Bolena.
Voluminöse, edle Kostüme, aber nicht wirklich historisch. Da zu lange Hosen, falsche Stiefel, offene Haare, unpassende Blusen. Und die sie tragen, sie posieren gar nicht graziös, wälzen sich bisweilen am Boden, rauchen ungeniert, greifen ihre Gegner frontal an. Kein Belcanto-Konzert in steifer Robe also, echte Menschen, wirkliche Konflikte, aufgelöst und zusammengehalten von der Grammatik der romantischen Italo-Oper des 19. Jahrhunderts. Gespiegelt in einer freien Annäherung an Renaissance-Optik als Herzergießungen in Cavatinenform, emotionale Ausbrüche nach Cabalettaart, und auch in den vielen, innovativen sanglichen Zwischenstufen, die der rastlos komponierende Gaetano Donizetti so nebenbei erfand.
Es geht hier um eine Königin. Die ist ohne Krone auf der Bühne, eine zweite, gerade noch Vertraute und – schlimmer noch – Nebenbuhlerin wird bald zur Regentin aufsteigen. Und da steht noch eine dritte, nicht im Libretto vorgesehene, sofort an ihrem charakteristischen Outfit erkennbare Queen. Regina-Ikone: Elizabeth I. In doppelter Ausführung. Einmal als Kind mit Zöpfen, das fassungslos zuschauen muss, was ihrer Mutter widerfährt, sogar zu ihrer Hinrichtung auf dem Schafott gezerrt wird. Und als alte, weißgeschminkte Frau, beide im gleichen, glitzrigen Kleid.
Womöglich ist es diese, die vertrocknete, kalkig gespensterhafte Greisinnenkarikatur der Jungfräulichen Königin aus Englands Goldenem Zeitalter, die sich nun an dies alles (und Künftiges) erinnert. Denn die Regisseurin Mariame Clément und der geigende Dirigent Stefano Montanari starten am Grand Théâtre de Génève einen Donizetti-Tudor-Zyklus. Wie das schon einige Theater, etwa zuletzt die Metropolitan Opera unternommen haben. Dort freilich war das ein Starvehikel für Goldkehlchen wie Anna Netrebko, Sondra Radvanovsky, Elina Garanca und Joyce DiDonato.
In Genf, wo der vorwärtsdrängende Intendant Aviel Cahn bisher nur zwei zerrupfte Corona-Spielzeiten hatte und deshalb sein Vertrag nun bereits bis 2029 verlängert wurde, soll es freilich musiktheatralischer zugehen. Obwohl die Trilogie, in deren zwei folgenden Teilen „Maria Stuarda“ und „Roberto Devereux“ dann Elisabetta auch tatsächlich auf der Bühne stehen wird, durchaus auch ein wenig Beruhigung der bereits viel geforderten Abonnentengemüter sein soll. Auf die mögliche, zum Belcanto-„Ring“ sich rundende Tudor-Oper, „Il Castello di Kenilworth“, wo es ebenfalls um Elizabeth geht, hat freilich auch Kahn verzichtet.
Dafür scheint der Tudor-Donizetti im Musiktheatertrend zu liegen. In Zürich, wo man die zwei anderen Opern im Repertoire-Depot hat, wird Anfang Dezember für Diana Damrau ebenfalls „Anna Bolena“ herausgebracht. In Brüssel wird aus den Königinnen-Nummern ein einzelner Abend zurechtgezimmert. Dessen Premiere wurde bisher von der Pandemie verhindert, so wie auch der „Bolena“-Start einer kompletten, von Jetske Mijnssen inszenierten Trias an der Amsterdamer Oper.
Wie war es nun in Genf? Erfrischend belcanto-anders. Am Start war ein so extravagantes wie exzellentes Sängerteam. Mariame Clément, hat sich im Verein mit ihrer Ausstatterin Julia Hansen sehr bemüht, die teils sehr langen Gesangsnummern szenisch aufzulockern (auch wenn zum Ende hin dann doch gewisse Wiederholungen spürbar waren). Und Stefano Montanari am Pult des gut aufgelegten Orchestre de la Suisse Romande ließ die Klangrede funkeln, dirigierte keine sturen Hum-Ta-Ta-Floskeln, sondern sogar mit einem bisweilen die Melodien umspielenden, historisch für diese Zeit nicht mehr von allen anerkannten Hammerklavier rhapsodisch gewürzte Instrumentalunterstützung der ausführlich verhandelten Gefühle. Das klang oft erfrischend anders, rauer, rhythmisch zugespitzt, ließ den Sängern aber jederzeit den nötigen Verzierungsatem.
Die Tudor-Königin Anna in Donizettis 35. und erster wirklich erfolgreicher Oper von 1830 sangt die sehr jungen Elsa Dreisig. Doch ist für diese Sängerin die Zeit der Girlies, des unbeschwert Soubrettenhaften, selbst die tragisch umflorten Jungmädchenhaftigkeit wohl schon vorbei. Nächsten Sommer will sie in Aix die Salome wagen. In Genf geht die Dreisig ihren Königinnenweg mit erhobenem Haupt – auch wenn das am Ende nicht unerwartet auf ihrem Schoß zu liegen kommt. Gut gesetzt sind die Spitzen, flüssig die Koloraturen, wohlüberlegt die dramatischen Ausbrüche. Diese Anna ist verletzlich, das ist ihre große Stärke.
Um sie herum ereignet sich ebenfalls berauschende Belcanto-Oper, in der es vokal schnell knistert und glüht, weil sich kein hohles Star-Theater als eitler Stimmenzirkus ereignet, sondern fünf fast ebenbürtige Sängerpersönlichkeiten klanglich miteinander ringen, leiden, lieben. Mit Montanari werden sie unterstützt von einem emotionsreich wissend kolorierenden, ein Maximum an Tonfeinheiten ermöglichenden Dirigenten.
Anna Bolena ist Mutter – deshalb tritt ihre Tochter Elizabeth, die im Stück eigentlich nicht vorkommt, beobachtend, analysierend, abwägend gleich doppelt auf. Und sie ist selbst Tochter, zumindest die Dreisig, die hier im Vergleich zu ihrem früheren Belcanto-Versuch mit Bellinis „I Puritani“ in Paris hier mehr bella figura macht, ist es gegenüber Giovanna Seymour, in Gestalt von Stéphanie d’Oustrac als reifere Interpretin. Die gewiefte Barocksängerin, erstmals in einem anderen Fach, klingt anfangs noch etwas trocken, verfügt aber schnell über die gewohnte Palette gestalterischer Gefühlsnuancen.
Wo die Callas, nachprüfbar im Premierenmitschnitt von 1957, die Tigerin in der Belcantorobe gab, auch gegen ihr eigenes Publikum giftete und wo Edita Gruberová als berühmteste gegenwärtige Rollenvertreterin sich in ein durchscheinendes Netz wehmutsvoller Koloratur einsponn, da sucht die Dreisig eine dritte Variante. Anne Boleyn, durchaus nicht unschuldig an ihrem Königinnen-Schicksal, das Heinrichs VIII. erste Frau, Kathrina von Aragon, den Mann und die Römisch-Katholische Kirche England kostete, wird bei ihr zu einer wissend Unwissenden, herrschsüchtig Hilflosen. Da tastet sich eine gleichermaßen Angefeindete wie Bewunderte durch eine von Konvention und Intrige geprägte Umgebung.
Leise schwingt sich die Stimme ein, gewinnt an Fassung, erobert sich so unmerklich tastend immer mehr Bühnenraum, bis sie – Donizetti hat das genial gesteigert – in der Finalszene allein die Szene regiert, stirbt und gleichzeitig wird. Man ist Zeuge, wie hier Notenmaterial Sängerinnenkörper wird, wie sich Töne in Psychologie verwandeln, eine Sopranistin zur Primadonna mutiert. Eine reifende Sängerin betritt so souverän wie anrührend frisches Terrain und behauptet sich – durchaus steigerungsfähig – auf Anhieb. Auch wenn sie in dieser Art des Singens sicher noch reifen wird.
Wie in einem Diamanten spiegelt sich dieses Bemühen zudem im lodernden Mezzo der d‘Oustrac. Da funkelt Eifersucht und Ambition durchaus ambivalent in vielen Facetten, stehen sich zwei ebenbürtige Sängerinnen in sportiv beflügelnder Konkurrenz angriffslustig gegenüber. Hier die flaschengrün gewandete Blondine, da die in Rottöne gehüllte Schwarzhaarige. Edgardo Rocha macht als Jugendliebe Percy aus dem hier undankbaren Dritten mit virilem Stahl und etwas isolierten Spitzentönen in der Stimme das Tenorbeste, Lena Belkina als fatal verliebter Page Smeton setzt schlanke, ein wenig flackernde Mezzoglanzlichter. Und Alex Esposito, als wohltönend nobler Enrico VIII. optimiert ein wenig den donnerhallend schlechten Ruf der historischen Figur.
Aber nicht umsonst heißt die Oper „Anna Bolena“. Und eine Elsa wurde zu Recht umjubelt. Auf die Fortsetzung, ebenfalls mit Dreisig und d’Oustrac, sind wir durchaus gespannt.