Vive(z) l’Opéra! Die Oper lebt und sie lebe. So warb vor einiger Zeit die Pariser Oper nicht nur für sich selbst – denn die Grande Nation meint mit opéra selbstredend vornehmlich die ehrwürdige Institution der Academie Royale de la Musique –, sondern macht doppeldeutig gute Stimmung gleich für die ganze Gattung. Und inzwischen sohar auch wieder für die französische Oper. Gerade hatte dort Massenets „Cendrillon“ seine Erstaufführung (!), nächste Spielzeit kommen Gounods „Roméo et Juliette“ nach 30 Jahren und der „Hamlet“ von Ambroise Thomas nach 50 Jahren wieder zurück ins Repertoire – auch wenn beide eben an der Opéra-Comique gespielt wurden.
Dort war und ist die die Heimstätte von Ambroise Thomas, bis zum 2. Weltkrieg einer der Könige des Hauses. Und seit zweites einstiges, allein in der Salle Favart über 2000 Mal gespieltes Erfolgsstück nach Goethe, die „Mignon“, sie findet sich auch sonst immer wieder in französischsprachigen Spielplänen. 2012 sang (bereits ein wenig nadelspitz in der noch perlenden Koloratur) Diana Damrau in Genf die schnippische Schauspielerin Philine als blonde Titania, die den reichen, freien, am Theater interessierten Wilhelm Meister verführen will, während der doch sein Hingezogenheit zu dem wilden Waisenkind Mignon entdeckt, das als Maskotten der Dramatruppe fungiert.
2001 erzählte in Toulouse Nicolas Joel diesen sanft verwässert-sentimentalisierten Goethe in Biedermeier-Veduten nachpinselnden Kulissen. Der gerann zwar zur Marlitt, doch wie schön, wie zart, wie melodieneinfältig tönte das! Nicht nur, wenn die wundervolle Susan Graham bei ihrem Rollendebüt als „Zigeunermädchen“ sich mezzosamtig blühenden Zitronen entgegenträumte. Von Emmanuel Villaume temperamentreich angetrieben, verteilte Annick Massis als Philine glänzende Spitzentöne wie Sternenstaub, und der Deutsche Jonas Kaufmann als braver Wilhelm mit voller Lockenpracht empfahl sich dank seines damals noch feinen lyrischen Timbres als idealer französischer Tenor.
Lässliche Sünden des Hörens und Träumens also. Während Meyerbeer und Gounod beide das Angebot einer Vertonung des Librettos ablehnten, wagte sich schließlich Thomas an die Adaption von Johann Wolfgang von Goethes Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“. Die Titelheldin wurde als Kind entführt und wird nun als junge Frau von Wilhelm aus ihrer Gefangenschaft bei den Schauspielern freigekauft. Sie verliebt sich in ihren Retter, der seine eigene Liebe zu Mignon allerdings erst erkennt, als es um Leben und Tod geht.
Die 1866 uraufgeführte opéra comique kam nun neuerlich an der diesem Repertoire sehr zuneigten, und es in der Regel vorzüglich besetzenden Opéra Royale de Wallonie in Lüttich heraus. Und allein schon die instrumentale Qualität des Abends wurde bereits in den ersten Ouvertüretakten deutlich, wenn der Stab von Harfe, Flöten und Klarinette zu den Hörnern weitergereicht wird, die den größten Hit „Connais-tu le pays?“ anstimmen, der dann auch bald vom zweiten, eben Philines Virtuosinnen-Polonaise abgelöst wird.
Frédéric Chaslin mischte das im genau richtigen Klangzauber ab, hielt sein Orchester zart, rhythmisierend pikant und immer unauffällig vorantreibend. So tönte es nie bräsig oder einfallsfrei, der gôut und ésprit dieser baiserleichten Partitur mit ihren sich immer wieder auflösenden, Sprechpassagen und Mélodrames einschließenden Partitur blieb vollkommen gewahrt.
Natürlich auch, weil nur französische Muttersprachler am Start waren. Stéphanie d’Oustrac erst als Rosenkavalier, dann als schriller Tiroler Bub ausstaffierte Mignon schillerte zunächst modisch genderfluid zwischen Frau, Mann und eben – Mignon; in Frankreich ein Ausdruck von mindestens doppelter Bedeutung. Aus der Barockmusik kommend kennt sie das Spiel der Affekte genau. Schließlich ganz verliebte Frau, sang sie sie mit durchaus reifer Herbheit und dann wieder makelloser Linie. Ein wenig Strenge tat dem verspielten Charakter gut, der schließlich sich selbst entdeckende Leidenschaftlichkeit offenbart. Stirbt sie am Schluss? Hier blieb es inhaltlich offen (Thomas selbst hat – wie im Hamlet, zwei alternative Finali komponiert, das tragische fand Verwendung).
Eine Oper der starken Frauen. Die kokette Narzisstin, immer sich selbst bewusst, auch sie reif für das Instagram-Zeitalter, so führte diese, dezent durch die Jahre von gestern bis heute segelnde Inszenierung wie die hier hochgeschätzte wieder einmal grandiose Jodie Devos in der großen Tradition der französischen Koloratursoubretten die Philine vor. Eine Frau die stets nach Beifall lechzt, vor ihrem Publikum von zwei Seiten, auf der Bühne, wie nach ideellem Durchbruch der vierten Wand im echten, enthusiasmierten Opernauditorium.
Die Devos mit den verrücktesten Perücken, mit Rosensträußen, Sonnenbrille und überladenen Roben, sie war vollendete Primadonna vom hohen Scheitel bis zur Stöckelschuhsohle, dabei selbstironisch ausgenzwinkernd und adrett, selbstsüchtig, aber eben doch irgendwie liebenswert. Schon deshalb, weil sie ihre hell gerundeten, verzaubernden Töne glitzernd fallen ließ wie die Koloraturmärchenfee.
Ein Bilderbuch-Wilhelm war auch der angemessen steif agierende, aber mit schimmerndem Timbre und tenorperfekter voix mixte seinen melancholischen Meister verkörpernde Philippe Talbot. Ein verwundbarer Mann, der die Härte der Welt erst für sich entdecken muss, und trotzdem seiner Sendung treu bleibt. Und weil dieses Trio in sich so glaubhaft war, nahm man auch die bisweilen albernen Plot-Wendungen, der vom bewährten Librettisten-Duo Jules Barbier/Michel Carré operntauglich gemachten Goethe-Vertonung hin. Denn hier schwebte wirklich alles auf den Flügeln des Gesangs.
Jean Teitgen war mit brüchig-markantem Timbre und doch vollen Tönen der einigermaßen geistesverwirrte Lotario, alter Schauspieler, aber möglicherweise auch Mignons adeliger Vater. Mit dem Leuchter, der später ein Schlosstheater in Flammen setzt, irrte er gleich zu Beginn über die Bühne. Aus der Theatertruppe empfahlen sich vokal zudem Philines zwei Teilzeitliebhaber, der alerte Tenorino Jérémy Duffau als eitler Laërte, mal im Schossrock, mal im Turnschuh (und in seiner Rolle als Shakespeares Theseus/Oberon (!) auch als Nazi-Karikatur – ein Seitenhieb auf das Regietheater?) sowie Geoffrey Degives als Pierrot-ähnlicher, naiv-verspielter Frédéric. Den brummigen Anführer Jarno gab Roger Joakim.
Vom Regisseur Vincent Boussard erwartet man sich für gewöhnlich nicht viel mehr als hübsche Bebilderung und französischen Ästhetizismus. Diesmal aber boten er und sein klug sich einbindendes Ausstatter-Team (Vincent Lemaire für die minimalistisch-atmosphärische Bühne, Clara Peluffo Valentini für die Zeiten und Räume überwindenden Kostüme und Nicolas Hurtevent für die bestens integrierten Videos; auch Nicolas Gillis tolles Licht muss erwähnt werden) deutlichen Mehrwert.
Das Theater auf dem Theater als etwas überstrapazierte Metapher machte hier nicht nur storymäßig Sinn, es wurde eher unauffällig auch zum Drehpunkt der sparsam möblierten Inszenierung. Die spielte mit schiefen Rahmungen, mal aus Holz, mal aus Neon, dumpfen und glänzenden Oberflächen. Die Zeit war entrückt und nah. Die Räume und Orte verschwammen hinter transparenten Vorhängen und sich überlagernden Projektionen von Theatern wie oberitalienischen Seenveduten, dort, wo wirklich die Zitronen blühen, kündeten von unscharfen Sehnsuchtsräumen.
So hatte selbst die umständliche Verwechslungs- und Entführungsgeschichte etwas träumerisch Verschwommenes. Diese eigene altmodische Oper leuchtete auf wie eine köstlich gesungene Fata Morgana von gestern. Keine gallisches Opéra-delice also, sondern ein belgisches formidables Goethe-Praliné. Die französische Oper lebt. Sie lebe!