Aviel Cahn kann auch kulinarisch. Das hat der scheidende Intendant des Grand Théâte de Génève in den letzten drei Spielzeiten etwa mit seiner Donizetti-Tudor-Trilogie bewiesen. Während die Konkurrenz in Zürich und Amsterdam, wo man früher oder gleichzeitig an der der niemals vom Komponisten als Einheit gedachten, aber damals thematisch extrem populäre Werkfolge „Anna Bolena“, „Maria Stuarda“ und „Roberto Devereux“, die alle die Verhältnisse am englischen Tudor-Hof unter Heinrich VIII. oder Elizabeth I. als romantisch-melodische Dynastiegeschichte thematisieren, mit wechselhaftem Erfolg als Trias aufzäumten, gab es am Genfer See Kontinuität: mit dem klug gewählten Dirigenten/Regisseurin-Team Stefano Montanari und Mariame Clément (nur die „Stuarda“ musste Montanari aus persönliche Gründen bei der Premiere abgegeben).
Echte Menschen, wirkliche Konflikte, aufgelöst und zusammengehalten von der Grammatik der romantischen Italo-Oper des 19. Jahrhunderts. Gespiegelt in einer freien Annäherung an Renaissance-Optik als Herzergießungen in Cavatinenform, emotionale Ausbrüche nach Cabalettaart – und auch in den vielen, innovativen sanglichen Zwischenstufen, die der rastlos komponierende Gaetano Donizetti so nebenbei erfand. Das sind einige der Gründe, warum sich in den Spielplänen seit einigen Jahren seine drei, vom Belcanto-Fürsten nie als solche erdachten Tudor-Opern zur Herrscherinnen-Trilogie runden.
Brüssels innovative Opéra de la Monnaie hat unlängst sogar die meist vernachlässigte, thematisch passende vierte Oper als Tetralogie aufgriffen und etwas ganz Eigenwilligen daraus fabriziert, eine raffinierte Donizetti-Collage namens „Bastarda“. Es geht hier um Königinnen, das ist schon mal fein. Vor allem um Elizabeth I. von England, uneheliche Tochter Heinrichs VIII., eiserne Jungfrau auf einem Männerthron, im Glaubensstreit zwischen der katholischen und der anglikanischen Kirche immer gefährdet; am meisten von ihrer Cousine Maria Stuart, Königin der Schotten. Aber es geht auch um ihre Mutter, Anne Boleyn, vom eigenen Vater zum Tode verurteilt.
Elizabeth ist in diesen vier Opern, meist in „Anna Bolena“, noch ohne Krone als stumme Kindperson auf der Bühne. Eine zweite, gerade noch Vertraute und – schlimmer noch – Nebenbuhlerin wird bald zur Regentin aufsteigen. Elizabeth lernt in „Il Castello di Kenilworth“ die Liebe zu Leicester, einem bereits vergebenen Mann, der auch in „Maria Stuarda“ seine Rolle spielt. Hier hat Elizabeth mit ihrer Rivalin Maria zu kämpfen und – als alte, weißgeschminkte Frau – immer noch mit der Liebe. Denn auch sie tötet, was sie begehrt. In „Roberto Devereux“ ihren letzten Liebhaber, der sie verraten hat.
Die New Yorker Metropolitan Opera hat die Tudor-Trilogie – in der fiktiv chronologischen Reihenfolge „Anna Bolena“ (1830), „Maria Stuarda“ (1834) und „Roberto Devereux“ (1837) – vor einigen Jahren von David McVicar inszeniert für ihre Stars Sondra Radvanovsky und Joyce DiDonato („Maria“ in der Mezzo-Fassung), Elina Garanca und Elza van den Heever. Die grandiose Edita Gruberova hat alle drei Opern gesungen, die Belcanto-Goldkehle Mariela Devia sich noch im vorgerückten Alter mit derer drei Schlussszenen vom Donizetti Festival in Bergamo verabschiedet.
In Zürich wurde die Trias komplett von David Alden angerichtet, auch wenn sie nicht nur Diana Damrau zum Vorteil wurde, wie ursprünglich geplant; ebenso in Amsterdam durch sehr brave Regisseurin Jetske Mijnssen, wo der zweite Teil bereits ohne den anvisierten Star Marina Rebeka auskommen musste – sie hatte ein besseres Engagement bekommen. Dafür gingt es jetzt in Genf wie geplant in die final dritte Tudor-Runde. Anschließend, das ist selten am dem Staggione-Haus, wird den späten Juni über die komplette Trilogie gespielt Und wieder kann man sich auf die junge Elsa Dreisig sowie die erfahrene, eigentlich aus der Barockmusik kommende Stéphanie d’Oustrac für die Mezzo-Parts verlassen.
In Genf funktioniert also der dreifache Donizetti nicht nur als ästhetisch-akustisches Konzept, es wird auch zu einem Triumph für das eher unerwartete Damentrio plus einen verlässlich sich steigerndem Tenor: Edgardo Rocha. Und einen von der Geige kommenden Dirigenten – Stefano Montanari. Der auch im „Roberto Devereux“ noch einmal ein sehr gute Balance zwischen Dramatik und Elegie, langen Melodielinien, und energetisch aufgeladenen Begleitfiguren findet. Bunt ist die Palette seiner Farben, vielfältig vermag er zu nuancieren. Das feinsinnige Orchestre de la Suisse Romande vermag sogar vielfach wie ein Period-Ensemble zu klingen, findet immer wieder neue Betonungen in der schlichten, aber eben nie schlechten Begleitung.
Und auch Mariame Clément bringt ihr Narrativ zu einem kohärenten, ihre Methodik noch einmal Revue passieren lassenden Ende, das die drei Teile motivisch sinnvoll verknüpft. Da sind wieder die flaschengrünen oder holzgetäfelten, an Tudor-Interieurs erinnernden Wände von Julia Hansen, die zeitlos und doch atmosphärisch anmuten, vor allem im Licht von Ulrik Gard. Zunächst standen die lichtdurchlässiger, konnten sich auch drehen, jetzt fügen sie sich zur Gruft. Hier ist die bleiche, alte, gebrechliche Elisabetta längst eine Gefangene in ihrem eigenen Palast. Ihre Kleider sind nur noch groteske Kostüme, sie lässt sich für die Nachwelt malerisch festhalten, zwei Screens zeigen sie in unterschiedlichen Porträthaltungen.
Als Erinnerungen tauchen ihr junges Selbst und ihre weißhaarige Mutter Anna Bolena auf; letztere im Unterkleid und mit dem weißen Rosenkranz, mit dem sie einst das Schafott bestieg. Auch der Schreibtisch rechts vorn, an dem Elizabeth gern innehält, ihre Schachzüge plant, ist wieder da. Zum Finale, wenn der letzte Kampf beginnt, legt Elisabetta noch einmal ihren früher getragenen Harnisch an. Am Ende geht sie einfach durch eine Tür ab. Einen Armschutz legt sich schließlich auch der weiße Kavalier zu, der sie schon vorher stützte und der sich als ihr Erbe entpuppt: James I. Sohn der verhassten Rivalin Maria Stuart.
Der Chor trägt mal Unisex-Anzüge, mal Spitzenkrägen, er mäandert genauso dezent zeitlos durch die Jahrhunderte wie die Zimmerfluchten. Die werden kerkereng im Schlafgemach der Kammerfrau Herzogin Sarah Nottingham, jetzt moderne Hosen tragende Geliebte des Devereux und erst am Ende enthüllte Rivalin der Elizabeth. Wieder gibt es einen diesmal kahlen, winterlich verschneite Park, die Jahreszeiten sind auch vorangeschritten. Noch immer verlustiert sich hier eine ewige Jagdgesellschaft. Das Verließ des auf seinen Tod wartenden Roberto ist ein Spiegelkabinett, wo die Voyeure lauern. Denn in diesem Palast ist nichts privat geblieben.
Ein Quartett Royal unterschiedlicher Charaktere ist hier höchst fesselnd in ein psychologisch glaubwürdiges Kammerspiel eingebunden, das sich in präziser Personenführung entfaltet. Der helle Sopran von Elsa Dreisig überstrahlt alle, sie hat die drei Primadonnenpartien gepackt, aber nicht als heiliges Monster à la Gruberova. Sie behält am Schluss die rote Perücke auf, tritt in Würde ab, erschlossen, müde. Das passt zu feingefassten Stimmführung der Dreisig, die auf Schlankheit und Agilität achtet, nicht so sehr auf Ausbruch und Attacke. So ist diese Königin nicht koloraturgepanzert, keine in der kalten Stratosphäre tirilierendes, eisumgürtetes Denkmal ihrer selbst. Sie bleibt auch vokal nahbar, bemitleidenswert.
Stéphanie d‘Oustrac ist eine ältere, reifere, nie zu unterschätzende Gefährtin wie Gegenspielerin, die mit ihrem körnigen Mezzo bisweilen die Komfortzone verlässt, doch stets glaubwürdig agiert. Die Männer sind da schon von Donizetti flacher gezeichnet. Doch sowohl Edgaro Rocha setzt als hier nur passiv agierender wie ertragender Devereux klug seine hohen Töne der Verzweiflung und Angst, kann aber eben doch sehr lyrisch betören. Nicola Alaimo, stimmlich schon etwas grau werdend, hat an Darstellungstiefe wie vokalem Relief entschieden hinzugewonnen. Er st sehr stark in der ambivalenten Rolle des erst solidarischen Devereux-Freundes, dann wütenden, weil gehörnten Sarah-Gatten Nottingham. In toxischem Furor schlägt er deren halbe Bettstubenausstattung kurz und klein.
So kommt diese Genfer Tudor-Trilogie für die Protagonisten zu einem tristen, für das Grand Théâtre aber zu einem triumphalen Ende. Das freilich erst der Anfang der zyklischen Vorstellungen ist. Nach „Roberto Devereux“-Wiederholungen geht es vom 18. bis 30. Juni mit den zwei integralen Aufführungsreihen los. Eine sehr seltene Belcanto-Gelegenheit – die sich unbedingt lohnt.
Anna Bolena: 18. & 26. Juni, Maria Stuarda: 20. & 28. Juni, Roberto Devereux: 23. & 30. Juni