Sonst wird in Berlin zum Opernspielzeitauftakt gern geklotzt, zumal an der Lindenoper, wo Daniel Barenboim den 3. Oktober als so prestigeträchtigen wie staatstragenden Premierentag reserviert hat. In diesem besonderen Theaterherbst aber war es anders, obwohl es genau nach Spielplan ablief. Nur die Deutsche Oper griff in die Musiktheatervollen und fiel leider nach den hohen Erwartungen auf den nun mit der „Walküre“ startenden Stefan-Herheim-„Ring“ inhaltlich banal tief und hart.
Die Staatsoper aber stapelte ausgerechnet zum 30-Wiedervereinigungsjubiläum kleinklein und brachte die Erstaufführung in deutscher Sprache von Luca Francesconis 2011 für die Scala komponierter Heiner-Müller-Vertonung „Quartett“. Was Barenboim dazu brachte, des toten ostdeutschen Dichters Müllers Frau, Brigitte Müller-Maier, zum Witwenschüttel-Parcours bei den üblichen Hagiographie-Interviewverdächtigen zu präsentieren und gleich nochmal zu behaupten, er habe Heiner Müller zu seinem Bayreuther „Tristan“ 1993 verholfen. In Wolfgang Wagners „Lebensakte“ liest sich das etwas relativer.
Sei es drum. Das 1980 uraufgeführte, damals sehr populäre, heute kaum mehr gespielte „Quartett“ für zwei Schauspieler variiert die ebenfalls zu der Zeit gern gelesenen und verfilmten sadomasochistischen „Gefährlichen Liebschaften“, den 1782, im Vorglühen der Französischen Revolution veröffentlichten erotischen Briefroman des Libertin Choderlos de Laclos. Wo sich die Marquise de Merteuil und der Vicomte Valmont mit- und gegeneinander vergnügen und in ihre Triebe und Spiele auch noch die junge Cécile und eine Madame Tourvel bis zum tödlichen Ende hineinziehen. Das war einst prima zynisches Schauspielerfutter in seiner Mischung aus Eleganz und Dreckigkeit, am Berliner Ensemble unvergesslich in den Neunzigern von Marianne Hoppe und Martin Wuttke von einer Loge in die andere sprachexerziert.
Die Oper bringt sich um diesen Effekt, die Sänger des gekürzten, ursprünglich in Englisch vorgetragenen Textes sind eingebunden in das Prokustesbett von neunzig Minuten elektroakustischer Partitur, die über hohle Versatzstücke gängiger Musikmoderne nicht hinauskommt. So hat Luca Francesconi dem Stück eigentlich nichts hinzuzufügen. Das faucht und pfeift und poltert ganz effektvoll durch den Saal, auch der Scala-Chor tönt aus der Konservre. Daniel Barenboim verrichtet Notendienst im Staastkapellen-Graben, nichts davon bleibt hängen.
Auf der Bühne inszeniert Barbara Wysocka weniger, sie installiert – ein betonangenagter, aufgeschnittener Globus auf der schimmernden Drehscheibe dient als „Salon der französischen Revolution/Bunker nach dem dritten Weltkrieg“, so wie es Müller dialektisch vorsieht. Darin einige Stühle, Kisten und zerrupfte Raben. Die beiden im Dauerparlando vokal engagierten Protagonisten, Mojca Erdmann und Thomas Oliemans, ziehen sich dauernd an und aus, wechseln das Geschlecht, führen Dessous vor, schnallen sich Dildos und Brüste vor und wieder ab. Sonst passiert zwischen den beiden, verbal Sexspielenden – niente. Zwei Statistinnen spielen und tanzen, die eine macht sich auch mal nackig. Masken und ein Schutzanzug sollen irgendwie Pandemie-Aktualität beschwören, Schwarzweißbilder zeigen Atompilze und Aktaufnahmen.
Das ist nicht anstößig und aufregend, nur entsetzlich fad und langweilig. Die Figuren gewinnen kein Profil, die Erdmann jodelt sich routiniert melismatisch eines, Oliemans muss sich am Ende mit unangenehm hohen Noten quäle. Sinn und Sinnlichkeit macht das rein gar nicht. Der Müller wirkt plötzlich verstaubt, die Oper noch älter. Pflichtapplaus nach Abgängen im schütter besetzten Haus, wo nicht mal die erlaubten 580 Zuschauer anwesend waren; von den üblichen Freikartenemfängern aus Politik und Gesellschaft ganz zu schweigen.
Besser schneidet da die Komische Oper ab. Zwei späte Beckett-Einakter und Schönbergs schillernden „Pierrot Luniare“ alles von Barrie Kosky für seine Muse Dagmar Manzel arrangiert, die sich den Schönberg schon lange gewünscht hatte. Auch wenn der, kombiniert etwa mit dessen Brettlliedern mehr Sinn gemacht hätte. Die Manzel spielte im Dunkel erst nur als Mund, dann als starr im Schaukelstuhl wippende Oma. So wie es Becket vorsieht. Auf den irrwitzigen überdehnten Redefluss von „Nicht ich“ eines aus der Schwärze fast obszön erleuchteten, alpträumenden Mundes, kam zu dem Bewusstseinsstrom vom Band in „Rockaby“ nur ein nuscheliges „Mehr“. Dann diseuste sie als zur Nachtruhe gebetteter Stepke im Matrosenanzug ihrem Teddy die Giraud-Gedichte entgegen. Der Kleine Hävelmann als irrlichtend zarter Mondsüchtiger, der von ganz weit her auf der leeren Bühne sein Bett anschleppt.
Die Manzel singtspielt das auf dem Stimmseil, nicht mehr Schauspielerin, noch nicht Vokalistin. Im exquisiten Ungefähr. Und mag sie auch unnötigerweise verstärkt sein, die nur fünf Musiker unter Christoph Beidler klinge live, direkt und plastisch. Drei Monodramen als kurzer, trotzdem intensiv-großer Abend.