2011, da gab es ein besonderes Déjà-Vu in Versailles. Da war in der nobel klassizistischen in fabulösem Gold-Blau gehaltenen Opéra royal erst die tragédie lyrique „Atys“ angesetzt war und danach am Grand Canal zauberisch nächtliche Fêtes venetiennes mit gigantomanischem Feuerwerk, Masken und Gondeln zelebriert wurden. Jean-Baptiste Lullys Fünfakter von 1676, wegen seiner bis hin zum Melodienpfeifen in den Schlossfluren gehenden Beliebtheit beim Auftraggeber auch „L‘opera du Roy“ genannt, handelt von einem phrygischen Halbgott, in den sich die Göttin Cybele verliebt, als deren Priester er dient. Er aber wiederum liebt die Nymphe Sangaride. Das muss tödlich enden. Die Nymphe stirbt von seiner Hand, er auch und wird zur Pinie.
Die 1987 unter William Christie eingespielte und damals auch szenisch aufgeführte Oper markierte den Beginn der Renaissance französischer Barockbühnenwerke im eigenen Land. Lauter später berühmte Alte-Musik-Größen waren damals dabei. Marc Minkowski spielte Fagott, Christophe Rousset saß am Cembalo, Veronique Gens und Hervé Niquet sangen im Chor.
Ein amerikanischer Bankier hat dann vor elf Jahren die Rekonstruktion samt Videoaufzeichnung dieser legendären Produktion in der klug zurückhaltenden Regie Jean-Marie Villegiers und der beziehungsreich schönen Ausstattung von Carlo Tommasi und Patrice Chauchetier finanziert. Sie wurde in der Opéra comique, in Bordeaux, Caen und New York gezeigt. Ihren Höhepunkt fand sie aber vor je 700 Auserwählten in Gabriels nobel klassizistischer Opernrotunde. Die ist fast 100 Jahre jünger ist als das Stück, trotzdem fungierte sie perfekt als vierte Wand. Denn auf der Bühne wird eigentlich das Schicksal Ludwig XIV. verhandelt. Hinterher sah dann der eine oder andere Opernbesucher zusammen mit 7000 anderen Zuschauern auf Tribünen im Park Flammen werfende Drachen, Feuerschlangen vor dem Schloss, Fontänenzauber auf dem großen Kanal. Dazu Lichtspuk zwischen Vegas und Versailles, sogar zwei paddelnde Fiat Cinquecentos als Hommage an das Heute. Ein königliches Vergnügen.
Nüchtern, dunkler, konzentrierter geht es jetzt am Grand Théatre de Génève zu, wo der versatile Intendant Aviel Cahn den albanofranzösischen, in Aix residierenden Choreografen Angelin Preljocaj beauftragt hat, als Gemeinschaftsarbeit mit dem Ballett dieses mythologische Barockspektakel ganz und gar heutig zu gestalten. Und am Pult steht, wie schon vor zwei Jahren, als sich Lydia Steier und Demis Volpi Rameaus exotischem Tanzdivertissement „Les Indes galantes“ annahmen, der in Genf lehrende Argentinier Leonardo García Alarcón, der mit seiner Cappella Mediterranea dem Opernhaus schon länger verbunden ist.
Alarcón aber leitete, nach einer Rede des Intendanten zum aktuellen Konflikt (die ihm auch Buhs einbrachte, als er den Neutralitätsstatus der Schweiz ansprach) zunächst eine mollgefärbte, von der Blockflöte begonnene, vermutlich erstmals von einem Barockorchester intonierte Version der ukrainischen Nationalhymne.
Angelin Preljocaj in seiner ersten Musiktheaterregie inszeniert die für eine französische Barockoper erstaunlich schnörkellos erzählte Geschichte fehlgeleiteter Leidenschaften (für die unerwiderte Liebe von Cybele wie des Königs Celenus müssen Atys und Sangaride büßen) ganz aus dem Tanz heraus. Zunächst wird im gerafften Prolog die Ausgangsgeschichte mitgeteilt, alle Beteiligten erscheinen in Straßenkleidern, Hoodis und Turnschuhen auf der leeren Szene; doch schnell wandeln sich Prune Nourrys Bühne und Jeanne Vicérials Kostüme. Alles bleibt schlicht, doch eine angeknackste, aber begehbare Wand aus uralten Steinen, immer mehr sich einer fernöstlichen Ästhetik annähernde Kostüme in Schwarz, Weiß und Grau, mit aparten Hutformen und Stangen schaffen traumschön minimalistische Bilder und Arrangements, die sich sanft wandeln.
Stark eingebunden ist mit 17 Tänzern das Ballet du Grand Théâtre, das so kraftvoll wie geschmeidig sich immer wieder die Szene für die typischen, hier stark reduzierten Barock-Divertissements erobert, wenn sich das Geschehen nach der Pause eindüstert, aber zurücktritt. Sowieso integriert Preljocaj perfekt Tanz und durchaus psychologische Personenführung, ohne dass die Tänzer das Singpersonal einfach verdoppeln.
Oftmals wirken trotzdem die synchronisierten Aktionen als organische Verlängerung und Vergrößerung des sängerischen Tuns: Besonders bei dem auch vokal verletzbar fein klingenden Tenor Matthew Newlin als todtrauriger Atys, der aus seinem Dilemma zwischen Liebe und Treue keine Lösung findet, am Ende mit einer Wunde aus der (als einzige bunte Farbe) wie bei der toten Sangaride Blumen blühen) vor einem fast humanoiden Baumskelett zum Bühnenhimmel aufsteigt.
Aber auch die soprandunkel tönende Anna Quintans (Sangaride) und die leidenschaftlich mezzoflammende Giuseppina Bridelli (Cybèle) vermögen es großartig, die gestische Rhetorik Preljocajs, teilweise auch expressiv dramatisch auf Steinquadern liegend, klanglich wie kinetisch sich anzuverwandeln. Und fungieren so, wie auch das andere, sorgfältig ausgewählte Ensemble (Andreas Wolf als markanter Celénus an der Spitze), als höchst lebendige Umsetzer von Lullys vielgestaltiger musikalischer Bewegungssprache in überraschende, originelle Bilder.
Am Schönen geraten ist die berühmte Schlafszene im dritten Akt, Nicholas Scott (le Sommeil) gebietet hier über eine Art barocke Revue in Zeitlupe, die sich kaleidoskopartig in immer neue Formationen teilt. Das Publikum hielt den Atem an, weil Leonardo García Alarcón, mit seiner Cappella Mediterranea sonst eher im italienischen Terrain unterwegs, der französischen Partitur perfekt ausbalancierte Leichtigkeit wie Schwere gibt. Da langweilt kein Moment, aber er sucht auch nicht die überspitzte Dynamik, erzählt in köstlichen Verzierungen und in engster Verzahnung mit der Bühne ein fernes, uns trotzdem rührendes Geschehen. Das ist so klug, wie unterhaltsam, emotional tiefgründig wie schön. Und tut gerade in diesen zeithistorisch schweren Stunden einfach nur gut.
Aviel Cahn hat seinem bunt aufgestellten, nur selten überintellektualisierten Opernbetrieb ein weiteres, gut ausgewähltes, monochrom funkelendes Bijoux eingefügt. Und mit Peter Eötvös‘ meditativ-düsterer Kreation „Sleepless“, die aus dem koproduzierenden Berlin anreist, steht schon wieder die nächste gelungene, wenn auch nicht restlos überzeugende Produktion im Grand Théâtre du Génève an.