Zwischen Zauberbaum und Automatikgewehr: Haydns „Armida“ als Winteroper im Schlosstheater Potsdam

Fotos: Stephan Gloede

Die Magierin, die gegen die Übermacht der Gefühle verloren hat, musst sich zwischen Zauberbaum und Automatikwaffe entscheiden. Sie wählte die Welt der Illusionen in Gestalt eines Bonsais in einem durchsichtig neonleuchtenden Kasten links vom mit golden geschnitzten Musikinstrumenten verzierten Bühnenrahmen. Doch das Gewehr im rechten Kasten gegenüber ist stärker. Und so bricht der Ritter Rinaldo die alte Macht. Aber wir die Epoche der Gewalt und des Kampfes eine Zukunft haben?

Das lässt Björn Reinke ist seiner einfachen, aber sinnlich klar ausgebreiteten Inszenierung im Schlosstheater Friedrichs des Großen im Potsdamer Neuen Palais offen. Aber besser wird es sicher nicht. Trübe sind leider auch die Aussichten für die Potsdamer Winteroper – dem herbstlichen Musiktheaterschwerpunkt von Hans Otto Theater und Kammerakademie Potsdam. Weil jetzt ein Lift in den Theatereckturm eingebaut werden muss, ist wiedermal auf mehrere Jahre dort keine Oper möglich. Verabschiedet hat man sich jetzt freilich mit einem, der von der Opernwelt nie so richtig akzeptiert wurde: Joseph Haydn.

Als geistsprühender, innovativer Sinfoniker mit 108 Werknummern ist Haydn längst rehabilitiert. Die Gattung Streichquartett hat er mit 83 Stücken praktisch erfunden und gleich zu einem ersten Höhepunkt gebracht. Selbst seine 52 Klaviersonaten erfreuen sich inzwischen steigender Beliebtheit. Nur mit seinen 17 Opern, stilistisch eingeklemmt zwischen ein wenig Händel, viel Gluck und leider zu wenig Mozart, tut man sich bis heute schwer.

Obwohl sie etwa in den Dirigenten Antal Dorati, Nikolaus Harnoncourt und René Jacobs, die sich nicht nur auf CD für sie eingesetzt haben, starke Fürsprecher besaßen. Nun hat sich für die vorerst letzte Potsdamer Winteroper Konrad Junghänel am Pult der frischen, kraftvoll, auch knorzig aufspielenden Kammerakademie Potsdam auf Joseph Haydns Tasso-Musiktheater „Armida“, seine letzte und einzige echte Seria-Oper von 1784 besonnen.

Und im herrlich goldweißrot leuchtenden Theaterchen war beglückt festzustellen, was selbst der letzten prominenten szenischen Aufführung vor 15 Jahren in Salzburg nicht gelungen ist: Das einst zum puren Fürstenplaisier im heute ungarischen Sommerschloss Esterháza gegebene, vor den Toren Jerusalems spielende Kreuzfahrer-Opus reicht eben doch über gepflegtes Philologeninteresse hinaus, obwohl es nur auf ein anonymes und bisweilen konfuses Libretto montiert wurde. Die Konkurrenz von Händel und Lully, Vivaldi und Salieri, Gluck und Jommelli, um nur die bekanntesten Komponisten zu nennen, die sich an diesem epochalen Epos vom „Befreiten Jerusalem“ schadlos gehalten haben – sie ist gar nicht so erdrückend. Denn Haydn begreift hier die veraltete Seria nur noch als Formkorsett, welches er so versuchsfreudig wie mutwillig aufschnürt und durchlöchert.

Und eben nicht nur Musikwissenschaftler dürfen jauchzen, wenn sie analysieren, wie Haydn hier stets anders die Übergänge aus bewegten Accompagnato-Rezitativen in die Arien formt, das einzige Duett, ein Terzett und den Schlusschor gliedert, wie sehr er mit dem Arienmodell  selbst experimentiert; sei es als atemloser Einteiler, als dreiteilige Da-capo-Form, zum Teil koloraturgepanzert, sei es sogar als eigensinniger Mehrteiler – wie in Rinaldos ratlos zerrissener Szene im zweiten Akt, die in einen ariosen Zornausbruch Armidas übergeht. Oder im großartigen dritten Akt am die Macht der Zauberin versinnbildlichen Myrtenbaum, den der bisher passiv, ja weichlich liebeskranke Rinaldo zerschlägt wie Siegfried den Drachen. Da wird erst säuselnd ein trügerisch rustikales Nymphen-Idyll beschworen, dann aber knattern die Hörner und züngeln die Geigen in unregelmäßigen Takten, stampfen die Fagotte und schrillen die Flöten als handele es sich um das „Schöpfung“-Chaos. Lustvoll probiert der gar nicht papahafte Haydn hier Klangwirkungen und Kolorit aus.

Und Konrad Junghänel tut es ihm im offenen Orchestergraben mit dreißig Musikern und der vor der Bergenzung mit ihrem Cenbalo im Orchestra-Halbrund aufgebauten Rita Herzog nachschöpferisch gleich, modelliert mit Akribie und Lässigkeit die kontrastiven Affekte. Fantasievoll paraphrasiert derweil Herzog die Cembalo-Rezitative. Das Orchester legt sich lustsatt ins Rehabilitierungszeug und in die Dynamikkurven, es prunkt mit gezielter Artikulation, wechselt flexibel die Tempi. Da ist viel lyrisch Zartes und legatofein Ausgesponnenes auch auf vokaler Ebene zu vernehmen, und selbst ohne eine wirklich fest abgespeicherte Melodie im Kopf brennt in dieser „Armida“ dramatisches Feuer unterm musikalisch wohlgeformten Zauberinnenhintern.

Großartige, variantenreiche und fein abgestimmte, zudem auswendig ihre Partien beherrschende Sänger lassen sich hören. Die Palme des Wohlklangs gebührt dem gerade in den Rezitativen wunderbar die Tenorfarben mischenden Michael Smallwood (Ubaldo) und Suzanne Jerosme (Zelmira) mit ihrer silbrigen Soubretten-Trompete. Kraftvoll sopranlodernd attackiert Aytaj Shikhalizada mit üppiger, aber beweglicher Stimme ihre hybride Titelpartie, ist souverän magische Verführerin, trostlose Frau, giftspeiende Rächerin. Liam Bonthrones unheldisch rosarot gekleideter Rinaldo singt mit prächtiger, extrem variantenreicher Stimme einen so timiden wie triumphierenden, meist liebesschmachtenden Paladin. Evan Hughes‘ König Idreno singt sich beweglich mit hellem Bassbariton durch seine beiden Arien; nur Hugo Hymas (Clotarco) wurde die einzige Solonummer gestrichen.

Der Reifrock der Armida fällt schnell, hier gibt es keinen barocken Kulissenzauber noch raschelnde Kostümpracht, in Sibylle Gädekes Ausstattung regiert die Nüchternheit der Gegenwart mit blechmatten oder schwarzen Wandflächen, Rahmen und einfachen Tischen. Horchgeweihe symbolisieren die ungezähmte Natur, die das rätselhafte Draußen. Die Herrin kommt im kleinen Schwarzen, die dienenden Influencerin auf dem Cityroller. Ein Schachspiel und Kaffeetassen müssen zwischen modernen Tischen und Betten als Requisiten für einen Geschlechterkampf mit trübseligem Ausgang genügen. Die Liebe wird abgetötet, die Autorität hat gewonnen.

Doch für Haydns immer noch zu wenig wertgeschätzte Opernkunst war es ein großer Abend. Volle Konzentration also auf die klanglichen Kostbarkeiten dieses Komponisten, der sonst in diesem Genre immer noch höchstens in der dritten Qualitätsreihe verortet wird. Und ab 2026 spielt die Potsdamer Winteroper erst mal wieder in der Friedenskirche, beginnend mit einer weiteren Rarität, Johann Christoph Bachs „Zanaida“.

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