„Bastarda“: Donizettis gelungener Tudor-Königinnen-„Ring“ – in Brüssel an zwei Abenden

Fotos: Simon van Rompey

Echte Menschen, wirkliche Konflikte, aufgelöst und zusammengehalten von der Grammatik der romantischen Italo-Oper des 19. Jahrhunderts. Gespiegelt in einer freien Annäherung an Renaissance-Optik als Herzergießungen in Cavatinenform, emotionale Ausbrüche nach Cabalettaart ­– und auch in den vielen, innovativen sanglichen Zwischenstufen, die der rastlos komponierende Gaetano Donizetti so nebenbei erfand. Das sind einige der Gründe, warum sich in den Spielplänen seit einigen Jahren seine drei, vom Belcanto-Fürsten nie als solche erdachten Tudor-Opern zur Herrscherinnen-Trilogie runden. Und Brüssels innovative Opéra de la Monnaie hat jetzt sogar die meist vernachlässigte, thematisch passende vierte Oper als Tetralogie aufgriffen und etwas ganz Eigenwilligen daraus fabriziert.

Es geht hier um Königinnen, das ist schon mal fein. Vor allem um Elizabeth I. von England, uneheliche Tochter Heinrichs VIII., eiserne Jungfrau auf einem Männerthron, im Glaubensstreit zwischen der katholischen und der anglikanischen Kirche immer gefährdet; am meisten von ihrer Cousine Maria Stuart, Königin der Schotten. Aber es geht auch um ihre Mutter, Anne Boleyn, vom eigenen Vater zum Tode verurteilt.

Elizabeth ist in diesen vier Opern meist in „Anna Bolena“ noch ohne Krone als stumme Kindperson auf der Bühne. Eine zweite, gerade noch Vertraute und – schlimmer noch – Nebenbuhlerin wird bald zur Regentin aufsteigen. Elzabeth lernt in „Il Castello di Kenilworth“ die Liebe zu Leicester, einem bereits vergebenen Mann, der auch in „Maria Stuarda“ seine Rolle spielt. Hier hat Elizabeth mit ihrer Rivalin Maria zu kämpfen und – als alte, weißgeschminkte Frau – immer noch mit der Liebe. Denn auch sie tötet, was sie begehrt. In „Roberto Devereux“ ihren letzten Liebhaber, der sie verraten hat.

Die New Yorker Metropolitan Opera hat die Tudor-Trilogie – also in der fiktiv chronologischen Reihenfolge „Anna Bolena“ (1830), „Maria Stuarda“ (1834) und „Roberto Devereux“ (1837) – vor einigen Jahren von David McVicar inszeniert für ihre Stars Sondra Radvanovsky und Joyce DiDonato („Maria“ in der Mezzo-Fassung), Elina Garanca und Elza van den Heever. Die grandiose Edita Gruberova hat alle drei Opern gesungen, die Belcanto-Goldkehle Mariela Devia sich noch im vorgerückten Alter mit derer drei Schlussszenen vom Donizetti Festival in Bergamo verabschiedet.

In Zürich ist die Trias gegenwärtig komplett von David Alden angerichtet, auch wenn sie nicht nur Diana Damrau zum Vorteil wurde, wie ursprünglich geplant; ebenso in Amsterdam durch Regisseurin Jetske Mijnssen, wo der zweite Teil ansteht, leider auch hier ohne den anvisierten Star Marina Rebeka. Dafür geht es in Genf (es inszeniert Mariame Clément) im Herbst dann in die dritte Tudor-Runde: Hier kann man sich auf die junge Elsa Dreisig sowie Stéphanie d’Oustrac für die Mezzo-Parts verlassen.

In Brüssel wollte der noch eher Opernunerfahrene Regisseur Olivier Fredj schon lange Donizettis Tudor-Verwicklungen als historisch stimmiges Grand Tableau auch der geschichtlichen Hintergründe auf die Bühne bringen. Zudem ergänzt um die 1829 komponierte Oper „Il Castello di Kenilworth“, freilich musikalisch collagiert auf zwei Abende gerafft, gekürzt, aber eben auch thematisch angeschärft. Corona hat es lange verhindert, zwischendurch gab es ein Online-Projekt. Jetzt war endlich Premiere. „Bastarda“ nennt sich das Doppelprojekt.

Das bezieht sich auf die Schlüsselszene der „Maria Stuarda“ wenn sich gleich zwei Königinnen wie die Katzen befauchen, gipfelnd in jenem famosen ersten Finale, wenn Maria Stuart statt für Frieden zu sorgen, Elizabeth, ihrer Rivalin um dem englischen Thron, der „unreinen Tochter der Boleyn“, verachtungsvoll „Bastarda“ entgegenschleudert. Das ist ein Fest nicht nur für die Freunde der italienischen Oper, für Divenflüsterer, Zickenkrieg-Liebhaber und Fans der Golden Girls wie Frauen weit über dem Rand des Nervenzusammenbruchs.

In Brüssel aber wird das beiläufig absolviert. Denn hier wurden nicht etwa vier Opern um je die Hälfte gestrichen und auf zwei Abende verteilt. Man erlebt vielmehr Aufstieg und Verfall der Elizabeth I., eingebunden in ihr gleichnamiges Zeitalter. Drei Erzähler – Cecil (Vernunft), Smeton (Emotion) und Nottingham (Theater) – begrüßen uns und verkünden die Geschichte: „Es war einmal …“ Es war einmal eine Zeit. Es war einmal ein Jetzt. Es war einmal eine Königin, Elisabeth I. Tudor, Tochter von Anne Boleyn und Heinrich VIII. In dieser Geschichte, in der alles möglich ist und Zeit ein elastischer Begriff ist, navigieren die Erzähler gemeinsam mit einem Kind – Elizabeths innerer Stimme – zwischen den verschiedenen Zeitabschnitten. Dadurch verschiebt sich der Zeitraum der Aufführung nahtlos innerhalb der elisabethanischen Ära von ihren ersten Lebensjahren bis zu ihrem Tod.

Der erste Teil von „Bastarda“ konzentriert sich auf das Leben der jungen Elizabeth: von ihrer Kindheit, geprägt durch den tragischen Tod ihrer Mutter Anne Boleyn, über ihre unerwartete Krönung bis zur ultimativen Konfrontation mit ihrer Cousine und Rivalin Mary Stuart. Herausgefordert durch den Verrat ihrer politischen Feinde sowie ihrer „Favoriten“, lernen wir im zweiten Teil von „Bastarda“ nicht nur eine ältere, sondern auch eine gefährlichere Queen Elizabeth I. kennen.

Es dauert erst einmal arg lange, bis es endlich mit Donizetti-Musik losgeht, da wird viel geredet, Zeitumstände sind zu klären. Man muss sich zwischen den diversen Regentinnen zurechtfinden, die zum Teil gleichzeitig die Bühne bevölkern, die auch in Musikstücken singen, die gar nicht für sie komponiert wurden. Arien werden übertragen, kommen oft nur fragmenthaft vor, die Wiederholungen fehlen immer. Nicht ist chronologisch. Es ist ein sehr subjektiver Blick, wie mit Großaufnahme und Close Up wie Fredj und sein Koautor Yann Apperry hier auf die Geschichte wie auch auf Donizetti blicken.   

Auch der am Brüsseler Pult stehende Francesco Lanzilotta dirigiert nicht nur mit Feinsinn und rhythmischer Verve, er hat andere Übergänge komponiert, Musik für die Sprechszenen, wie auch neue, durchaus atonale Musik für die oft stummen Bilderwechsel. Das ist ein faszinierendes Kaleidoskop aus Szenen und Klängen geworden, ein sich manchmal diffus verwischende Karussell an Sinneseindrücken, denn auch der goldrote Theaterraum wird bespielt, das Publikum hat sich zu erheben, wenn die Königin auf einer den Orchestergraben überschlagenden, zweigeteilten Brücke einzieht. Der Chor singt bisweilen von dort, die Royals tauchen auch in den Seitenlogen auf, die Zugangstüren werden aufgerissen und zugeschlagen.

Es ist ein neuer Blick, man muss sich drauf einlassen, filmisch, von anderer Gliederung und Bauart als die oft schematisierte Belcanto-Oper. Vor allem deren musikalische Großformen werden hier auseinandergerissen und filetiert. Sie haben sich jetzt einem größeren Narrativ unterzuordnen, nicht umgekehrt. Natürlich geschieht das nicht ohne Verluste, doch auch der ästhetische Gewinn dieser beiden sehr besonderen italienischen Opernabende ist enorm.

Bühnenbildner wie Lichtsetzer Urs Schönebaum, Kostümdesignerin Petra Reinhardt, Videofrau Sarah Derendinger und Choreograph Avshalom Pollack ziehen vollkommen an einem Strang, ergänzen sich auf das Beste. Zwischen Stils und Video von Elizabeth ziehen die anderen wie in einer Ahnengalerie vorbei, die Bühne ist fluide, Säulen und Spiegel verschiebe sich, Podest schweben empor, so entstehen immer neue Räume der poetischen Erinnerung. Das Gesamtkunstwerk Oper erfährt eine neue, so schwebende wie elegant und intelligent ausformulierte Kausalität. Und auch die großen Gefühle kommen zu ihrem Recht: denn die historische Person Elizabeth wird hier emotional vergrößert, wie es so eben nur das Musiktheater vermag.

Francesca Sassu ist Elisabetta, schlank, hoheitsvoll, zerrissen zwischen Pflicht und Zuneigung, Furcht und Arroganz. Sie spiegelt sich in vibranten Koloraturen und kraftvoll-zarten Legatolinien vokal in der lebhaft fantastischen, erst 12-jährigen Schauspielerin Nehir Hasret, die als ihr kindliches Alter Ego mit Königinnenpuppen spielen, Fragen stellen und über die Stränge schlagen darf – wo die Regentin in letzter Konsequenz dem Protokoll wie der Staatsräson zu folgen hat. Wie sehen Elizabeth in immer neuern Fantasieroben und Perücken, oft historisch weiterfantasiert, sich stetig stärker verpanzern. Bis sie in der grandiosen, wiederum aus allen drei Opern gemixten Schlussszene unter ihrem Rock in dessen Gestänge wie in einem Kerker gefangen ist. Sie wird von einer Maskenbildnerin abgeschminkt, steht als Mensch da. Und wieder erhebt sich das Publikum und überantwortet sie im Tod ihrem Schöpfer. Tolle letzte 20 Minuten, in denen Fredjs Konzept noch einmal grandios aufgeht.

Deutlich vom Singanteil her in der zweiten Reihe stehen eigentlich alle anderen: die expressive Salome Jicia als Cher-artige Anna Bolena, die ihrer Tochter ganz zum Anfang schon ein sterbenstrauriges Wiegenlied singt. Lenneke Ruiten ist hochmütig und vokal bannend Maria Stuarda, Enea Scala singt mit hellem, schneidenden, aber auch triumphierenden Tenor den Leicester. Luca Tittoto gibt mit schlankem Bass einen bisweilen verschmitzten, dann wieder unnachgiebigen Enrico, der am Ende auch nur als pompös kostümiertes Stehaufmännchen balanciert. Sergey Romanovsky ist nach langer Bühnenabwesenheit als schönstimmig-viriler Roberto Devereux zu hören, David Hansen singt allzu schrille die Mezzoarie des Pagen Smeton. Dunkel glutvoll tönt Auch Raffaella Lupinacci als Sara und Giovanna Seymour, lyrisch zart porträtiert Valentina Mastrangelo Leicesters Frau Amelia Robsart. Auch der versatile Chor und die geschmeidigen Tänzer haben ihren entscheidenden Anteil an dieser wagemutigen, letztlich erfolgreichen Unternehmung einer Belcanto-Neubetrachtung.

Denn obwohl hier viel zerschnitten, umgestellt, kupiert, minimalisiert ist, der melodische Furor, das Dramagenie, die Unbedingtheit Gaetano Donizettis triumphiert auch in dieser so speziell heutig psychologisierenden, durchaus auch eine dominierenden Streaming-Ästhetik geschuldeten neuen Zugangsweise. Das Experiment ist gelungen: Die Königin stirbt, aber es lebe die singende Königin!

Arte überträgt am 28 und 29. Mai

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