Die Oper in Lüttich, sie ist sehr speziell. Ein proper saniertes, bestens mitten in der Stadt dastehendes historisches Theater, mit der Statue (samt Herzensurne) eines der beiden großen Komponistensöhne der Stadt vor dem Eingang: André Grétry; der andere ist César Franck, von dem in der nächsten Saison, mit Unterstützung der rührigen Bru-Zane-Stiftung, dessen „Hulda“ konzertant aufgeführt werden wird. Die Opéra Royal de Wallonie, der Name sagt es schon: in diesem belgischen Landesteil wird französisch gesprochen, ist aber in den letzten Jahren immer auch so etwas wie das nördlichste Opernhaus Italien gewesen.
Dafür verantwortlich war – in deutlicher Absetzung vom Kurs der anderen beiden belgischen Opern in Brüssel und Antwerpen/Gent – vor allem ein Mann, ein Opern-Grand Seigneur alter Schule: Stefano Mazzonis di Pralafera. Doch der Intendant und Künstlerische Leiter starb 72-jährig starb am 7. Februar 2021 an den Folgen eines Krebsleidens. Der Abkömmling eines alten piemontesischen Adelsgeschlechts hatte die Opéra Royal seit 2007 geleitet. Unter seiner Führung hat das in seinem feinem Historismuslook aufwendig renovierte Haus eine erstaunliche Entwicklung hinsichtlich der künstlerischen Qualität, eines internationalen Rufs und der Akzeptanz des Publikums erlebt.
Nicht nur starb Mazzonis di Pralafera mitten in der Corona-Krise, die gerade auch Belgien besonders stark in Mittleidenschaft gezogen hatte, und so tolle Premieren wie die Verdi-Rarität „Alzira“ und einen perfekt besetzten „Hamlet“ unmöglich machte. Die Oper feierte diese Saison auch ihr 200-jähriges Bestehen. Noch ein Jahr hätte seine Intendanz gedauert, die Suche nach einem Nachfolger war bereits gestartet. Der ist jetzt gefunden: es ist Stefano Pace, langjähriger Intendant der Oper in Triest, der bereits im Oktober anfangen wird.
Mit ihm würde die italienische Linie des Hauses, natürlich immer mit den notwendig eingestreuten französischen Titeln, gern auch Ausgefallenes, vermutlich weitergehen. Doch nichts Genaues weiß man nicht. Das Opernhaus Triest hat sich in den letzten Jahren durch eigentlich gar nichts hervorgetan, läuft selbst in Italien trotz der Größe der Stadt höchstens in der dritten Reihe.
Auch Lüttichs italienischen Chefdirigentin Speranza Scappucci kann noch nicht sagen, was für ein Kurs hier künftig ästhetisch eingeschlagen werden wird. Sie kennt Pace nicht, war in die Suche nicht involviert, obwohl sie gegenwärtig das Haus mitleitet, alle Auditions im sehr gepflegt klingenden Orchester vorsteht, und deshalb gegenwärtig hektisch zwischen Lüttich, Vorstelllungen in Zürich und ihrem Wohnsitz Wien pendelt.
Mit der 48-jährigen Italienerin hat Mazzonis vor vier Jahren als Nachfolgerin des immer noch am Haus präsenten Paolo Arrivabeni einen guten Griff getan. Scappucci war damals im Aufwind und ist es immer noch. Ihre Hausdebüts an der Mailänder Scala und an der New Yorker Metropolitan Opera mussten zwar wegen Covid verschoben werden, aber dafür stellt sie sich etwa in der kommenden Spielzeit an der Berliner Staatsoper vor. Sorgfältig balanciert sie ihre Musiktheaterdirigate mit einer steigenden Anzahl von Konzertauftritten aus. „Und trotzdem war Lüttich in den letzten Jahren immer wie ein Heimkommen“, sagt sie am Telefon. „Hier warteten mein Orchester und mein Chor, gemeinsam sind wir einen guten Weg gegangen. Es war eine wichtige und tolle Zeit für mich, vor allem weil mir Stefano immer so klug und umsichtig als echter Profi zur Seite gestanden hat.“
Wird es mit ihr, der Vielgefragten, in Lüttich weitergehen? „Ich weiß es noch nicht. Mein Fünfjahresvertrag läuft Mitte 2022 aus. Ich muss mich jetzt erst einmal mit Stefano Pace besprechen, wir müssen uns wirklich beschnuppern. Und dann sehen wir weiter. Jedenfalls war es eine sehr fruchtvolle Periode der Eigenverantwortung für mich. Ich habe wichtige Werke hier erstmals ausprobieren können, mit dem Orchester bin ich vor allem auch im Konzertrepertoire gewachsen.“
In der folgenden Spielzeit wird Speranza Scapucci deshalb neben den drei Opern „Eugen Onegin“ (am 22. Oktober, als Fürst Gremin ist der russische Bassweltstar Ildar Abrazdakov aufgeboten), „Lucia di Lammermoor“ am 19. November (mit Zuzana Marková und Lionel Lhote) und am 17. Juni 2022 „Simon Boccanegra“ (Laurence Dale inszeniert, George Petean, Federica Lombardi, Renato Zanellato, Marc Lhao, Lionel Lhote sind besetzt) etwa ein Strauss/Wagner-Konzert dirigieren. Und auch sonst trägt der Spielplan der Saison 21/22 ganz klar noch die Handschrift von Stefano Mazzonis di Pralafera.
Die Saison startet am 19. September mit einer letzten Regie von ihm für Verdis „La Forza del Destino“. Paolo Arrivabeni dirigiert, Marcelo Álvarez, Marie José Siri, Simone Piazzola, Michele Pertusi und Nino Suguladze singen. Am 19. Dezember gibt es ein „Otello“, aber von Rossini (Gianluigi Gelmetti/Enrico Sagi, exzellent sängerbesetztmit Sergei Romanovsky, Salome Jicia und Maxim Mironov). Schon am 26. Januar 2022 geht es weiter mit der von Oksana Lyniv dirigieren, sehr reizvollen Koppelung von Puccinis Nonnenoper „Suor Angelica“, zu dem sich der kurze, fast das gleiche Thema verhandelnde Umberto-Giordano Einakter „Mese Mariano“ bestens fügt (Violeta Urmana ist dabei).
Am 3. März folgt „Rigoletto“ (Daniel Oren dirigiert, mit Carlos Álvarez, Jodie Devos und Francesco Demuro), leider ist die Regie der aus Palermo kommenden Produktion von Hollywood-Nebenrollenstar John Turturro ziemlich banal. Am 1. April ist die Ambroise- Thomas-Rarität „Mignon“ angezeigt (Frédéric Chaselin/Vincent Boussard, sehr fein gecastet mit Stéphanie d’Oustrac, Philippe Talbot, Jodie Devos und Jean Teitgen). Am 13. Mai setzt Christophe Rousset seinen Mozart/da-Ponte-Zyklus mit „Don Giovanni“ fort. Aus dem jungen Sängerensemble ragt Maxim Mironov als Ottavio hervor. Am 15. Mai gibt es dann gleich die konzertante „Hulda“ unter der Stabführung von Gergely Madras. Jennifer Holloway Véronique Gens, Judith van Wanroij und Edgaras Montvidas singen.
Die Opéra Royal de Wallonie, das ist ein ganz klar auf Stars und Raritäten setzendes Haus mit traditionellem, aber keineswegs altmodischem Flair. So zieht man nicht nur aus Lüttich und Belgien, sondern bis aus Frankfurt und noch weiter die Liebhaber ästhetischer Ausstattungen und großer Sänger in bisweilen ungewöhnlichen Rollen an.
Annick Massis wurde hier geliebt, zu Ruggero Raimondi hatte Mazzonis gute Beziehungen. June Anderson sang hier ihre erste Salome, Juan Diego Flórez, Deborah Voigt, José Cura, José van Dam konnte man erleben. Man exhumierte für den immer noch zwitscherfreudigen Koloraturkanarienvogel Sumi Jo die reizvolle „Manon Lescaut“ von Daniel- François-Esprit Auber oder dessen quirligen „Le Domino noir“. 2012, zur Wiedereröffnung des Hauses, gab es sogar die Uraufführung von „Stradella“, einem Jugendwerk von César Franck.
Stefano Mazzonis di Pralafera hatte zudem schon früh auch auf Online-Übertragungen und Streams sowie auf eine konsequente Jugendarbeit gesetzt, so war auch jetzt, in den letzten eineinhalb Pandemiejahre trotz der strengen belgischen Hygienemaßnahmen virtuell Einiges möglich. Einige der Produktionen aus Lüttich gibt es auf DVD, man kooperiert mit Medici-TV – und manchmal stellt man die abgefilmten Premieren für den Rest des Jahres auf die Webseite online. Umsonst. Aber auch in Lüttich machen die live natürlich viel mehr Spaß.
So wie auch eben in der letzten Spielzeitpremiere mit Donizettis „La fille du régiment“ der einzigen, die wieder live vor leider nur 100 maskierten Zuschauer in den oberen Rängen gespielt werden konnte. Denn auf der Bühne saß, schwer mit Plexiglastrennscheiben verbarrikadiert, das Orchester unter der flotten, schmiegsamen Leitung des Spaniers Jordi Bernàcer. Der engagierte Chor hingegen war sehr luftig im Zuschauerraum verteilt, die Herren im Parkett, die Damen im ersten Rang. Ein Wunder, dass unter solchen Umständen die Koordination funktionierte, ja das es sogar als Raumklangerlebnis Eindruck machte und zu funkeln, ja zu brillieren begann.
Was freilich auch an der spielfreudigen Besetzung lag, die sich mit Hilfe der Regisseurin Marie Lambert-Le-Bihan, angedeuteten Kostümen und ein paar Requisiten auf dem überdecken Orchestergraben unerwartet semiszenisch sehr gut eingerichtet hatte. Da moussierte die französische Buffa, die Sozial- wie Militärsatire um das von einer Soldatentruppe aufgezogene Adelswaisenmädchen, in das sich der etwas tumbe Tiroler Tonio verliebt, mundete elegant und erfrischend.
Der bewährter Baritonkomiker Pietro Spagnoli war ein gut aufgelegter Sergeant Sulpice, genauso die genussvoll brummige Julie Pasturaud als Maries Tante, die bayerische Gräfin von Berkenfeld, die sich schließlich als Mutter entpuppt. Und vor allem Patrick Delcour holte seine Lacher in der Doppelrolle als deren ergebener Begleiter – und später hübsch aufgerüscht en travesti als dünkelhafte, mit hartem deutschem Akzent sprechende Herzogin von Crackentorp, mit deren blaublütigem Sohn Marie standesgemäß verkuppelt werden soll.
Die freilich singt nicht nur Trikolore-schwenkend das schmissige „Salut à la France“, die bekommt natürlich auch ihren Tonio. Und in diesem Paar hatte diese „Fille“ ihre strahlende Mitte. Denn beide, die Belgierin Jodie Devos mit silbriger Koloratur, flüssigem Parlando, wohlgesetzten Pointen, Charme und Trotzköpfchen, und Lawrence Brownlee mit neun hell geschmetterten C’s, aber auch schön belcantesker, registerausgeglichener Legato-Linie auf der Bruchkante für die viel schwierigere zweite Arie, sie waren perfekt platziert und besetzt. Vor allem: Die Chemie zwischen beide stimmte.
Sah und hörte man diesem Traumpaar, aber auch den anderen Mitspielern zu, dann vergaß man Corona und die schwierigen Aufführungsumstände, dann zog ein dieser gelungene Donizetti in den Opernbann. Hoffentlich geht es in Lüttich an der Opéra Royal de Wallonie auch künftig auf diesem Niveau weiter.