Grauglitzernde Politmoritat samt männlichen Odalisken: Barrie Kosky bereitet Serge Dorny mit Rimsky-Korsakows „Der goldene Hahn“ in Lyon einen unheimlich starken Intendantenabgang nach 18 Jahren

Fotos: Jean Louis Fernandez

Schluck. Rülps. Schmeckt! Der goldene Hahn, ein gar nicht so harmloser Piepmatz, hat eben die Augäpfel des Zaren verspeist. Und auch sonst ist dieser Potentat ziemlich tot. Das Publikum lacht, schütter. Denn es sind höchstens 50 Menschen im sonst leeren Saal der Opéra de Lyon, wo am zweitwichtigsten französischen Musiktheater der nach 18 Jahren gen München scheidende Serge Dorny just einen Tag nach dem Neuanfang aus dem zweiten Corona-Lockdown seine letzte Premiere feiert. Vor 50 Besuchern. Im Graben und auf der Bühne stehen mindestens doppelt so viele. Doch das liegt nicht an den Quarantänebestimmungen, sondern an den neuerlichen Streiks der Gelbwesten, Studenten und Mindestlohnempfängern. Die halten landesweit eine Reihe von Theater besetzt, so auch leider die Oper in der Rhone-Metropole.

Nikolai Rimsky-Kosakows „Der goldene Hahn“ ist kein leichtes Stück. Holzig, spröde, von kantigem Witz und ätzender Schärfe. Eine parabelhafte Satire eben. Gar nicht so, wie man sich den süffig-süßlichen Komponisten vorstellt. Und trotzdem die letzte und – in Maßen – populärste seiner 15 Opern, posthum uraufgeführt 1909. Prokofiew und Schostakowitsch besonders haben ihr trocken meckerndes Klanggewand, ihren blechernen Witz, aber auch ihre salonhaft sich schlängelnden Orientalismen für Eigenes, Kommendes studiert.

„Der goldene Hahn“– gemeint ist jener titelgebende Schicksalsvogel des Astronomen, der dem doofen wie müden, sich kriegslüstern selbst überschätzenden Zaren Dodon und seinen machtgeilen Söhnen mit stetem Krähen zur Schlacht nur Unglück bringt, er wird selten inszeniert. Schließlich muss man schon sehr genau wissen, was man mit dem seltsam sich plusternden Opernfedervieh anfangen will.

Schließ hat es dieses komisch-grausame Stück in sich. Schon während seiner Entstehungszeit. Der echte Zar führte damals einen Krieg. Der Zar in der Oper auch. Der echte Zar war ein ziemlich bornierter Idiot. Der Zar in der Oper noch viel mehr. Der echte Zar lebte ­– noch, obwohl er von revolutionären Aufständen bedroht wurde. Der Zar in der Oper wird plötzlich ermordet. Dann ist das Stück unvermutet aus. Danach werden die Verhältnisse nicht besser, in der Oper wie auch im wahren Russland nicht. Bis heute.

Ein singender, klingender Frontalangriff auf die Obrigkeit. Das musste man sich erst mal trauen. Ausgerechnet in einem Land, wo die Leibeigenschaft noch nicht lange abgeschafft war, wo der schwache Herrscher aller Reußen in seinem unruhigen, bereits heftig brodelnden Vielvölkerstaat mit eiserner Hand und Faust durchregierte. Und wo dieser 1905 den Krieg gegen Japan verloren hatte und beim Petersburger Blutsonntag mehr als 1000 Menschen erschießen ließ. Da also nun schrieb Nikolai Rimsky-Korsakow, ehemaliger Marineoffizier und Inspektor der Militärmusik, zudem Professor für Komposition und Instrumentation am St. Petersburger Konservatorium, eine Oper über genau diese Zustände. Freilich auf Quellen von Puschkin und Washington Irving fußend.

Weltberühmt wurde das Werk dann 1914 in Paris, wo Michael Fokine für die Balletts russes erstmals farbenprächtiges Musiktheater für Tänzer inszenierte, Sänger und Chor wurden in den Orchestergraben verbannt. Doch schon damals ließ man sich durch die scheinbar zeitlose Fabel und die grandios-eigenwillige, innovative Instrumentierung von der Sprengkraft dieses Stückes ablenken. In den ehemaligen Gebieten der Sowjetunion war und ist das anders. Da werden diese Werke fleißig gespielt. Vielleicht weil die Russen und ihre Nachbarvölker gern wachträumen, sich vom scheinbaren Märchengehalt vieler dieser Werke in eine bessere Theaterwelt hinwegtragen lassen wollen? Dabei haben sie alle ihr subversives, gar nicht harmoniesüchtiges Fundament.

„Der goldene Hahn“ läuft ausgerechnet am Moskauer Bolschoi Theater, also in der Höhle des Putin-Löwen, seit 2011 in einer ziemlich heutig gedeuteten Inszenierung des dadurch zum Star avancierten Kirill Serebrennikov. Und spielt im sehr erkennbaren Kreml. Spätestens da hat dann jeder verstanden, dass hier kein netter Märchenonkel nur in feinsinnigen Mythenwelten schwelgt. Es war freilich nicht Serge Dornys Wunschstück zum Lyon-Abschied, bevor er an der Bayerischen Staatsoper mit einem anderen Russen startet: mit Dmitri Schostakowitsch und seiner dort noch nie gespielten „Nase“.

Eigentlich sollte die später an die Komische Oper Berlin weitergereichte Barrie-Kosky-Inszenierung beim Festival von Aix-en-Provence im Sommer 2020 herauskommen und dann im Herbst von Lyon nachgespielt werden; diese Koproduktionsschiene hat Tradition. Nun war doch an der Rhone Premiere, auch für die Kameras, und auf jeden Fall wird diese Version Ende Juli in Aix nachgereicht – wo Kosky ebenfalls mit Verdis „Falstaff“ dabei ist.

Von Folklorebuntheit ist in diesem sagenhaft exotisch ausgemergelten Russland nicht zu sehen, ähnlich wie beim „Fürst Igor“ an der Pariser Oper, wo Kosky und sein Bühnenbildner Rufus Didwiszus einzig ein graues Land zeigten. Auch diesmal sieht der Einheitsbühnenkasten sehr nach Tschernobyl oder verzauster König-Lear-Heide aus: staubige, blattlose Gestrüpphügel, Geröllwege und rechts ein verkrüppelte Baumskelett, an das sich der Goldene Hahn klammert. Der ist ein halbnackter, öligmattglänzender Pantomime (Wilfried Gonon) mit einem Damenschuh. Ein Haustier von der traurigen Gestalt (gesungen wird er von der unsichtbaren Maria Nazarova).

Zar Dodon, der gekonnt bramarbasierende, jaulende, nölende Dmitry Ulyanov, läuft mit Krone in verflecktem, später bluttriefendem Freinripp herum und peilt gar nichts, selbst als er die Köpfe seiner nichtsnutzigen, an der Spitze ihrer Pferdechorbrigarde in der Schlacht gefallenen Söhne herumkickt. Ein passiv-aggressives Stück Potentaten-Malheur à la Roi Ubu. Am Ende ist auch der Astrologe (schön grotesk keifend als langes Tenorelend mit Rimsky-Rauschebart: Andrey Popov) vom Hackebeil geteilt worden und trägt seinen, den Epilog singenden Schädel in der Hand.

Einzig die Königin von Schemacha, nicht Saba, macht als Melismen gurrende Verführerin den Zaren kirre. Dabei will sie nur seinen Besitz und bekommt ihn auch. Schon den Pferdechor (später mutiert der zu stylishen Hippies) hat Choreograf Otto Pichler bewährt in Strapsen tänzeln lassen. Die crazy Queen – Nina Mynasian koloraturglitzert sie betörend vokalverhangen erst im lila Glamourmantel mit weißem Pfauenfederkronenbusch, dann als Marlene Dietrich im semitransparenten Tasselkleid – wird von einem Quartett von hinternwackelnden männlichen Burlesque-Odalisken im Fransenröckchen gerahmt.

Kosky-Queerness eben. Und die mürrische Haushälterin Amelfa (Margerita Nekrasofa) grummelt in Pantinen hinterher oder offenbart sich als Nachtfalter. Doch die meiste Zeit der zwei Spielstunden ist das eben nicht grellkreischig, sondern düster, dystopisch, surreal, streng, kafkaesk. Ein Endspiel jeglicher Staatsraison, wo auch das Volk nichts sieht und kapiert.

Um so stärker konzentriert sich die Aufmerksamkeit auf Daniele Rustioni. Der einmal öfter  sein formidables Orchester spielerisch im Dirigentengriff hat, von den spitzblökenden Trompete des Auftakts über das einsam knarzende Fagott, den haltlos im Harmonieungefähren schwebenden Streicherteppich, die ulkig fahlen Folkloregirlanden der Holzbläser, die dezent rhythmisierende Schlagwerkbatterie. Das ist rüde und geschmackvoll zugleich, obwohl das Klangkollektiv, diesmal hygienebedingt, viergeteilt ist, in den Zuschauerraum ragt, wie auch hinter der Bühne platziert ist.

Barry Kosky schaut genau hin, inszeniert mit unerbittlich insistierender Konsequenz diesen „Goldenen Hahn“ als eine Grand-Guignol-Moritat mit dem bitterem Wahrheitskern einer rasierklingenscharfen Politparodie. Und bereitet Serge Dorny so einen unheimlich starken Opernmacherabgang in Frankreich. Den jetzt nur noch jemand zu sehen bekommen müsste. Rülps. Schluck. Lecker!

SHARE

Schreibe einen Kommentar