Kissinger Sommer 2024: Pianistengipfel – und ein Hauch von Berlin

„Ich hab‘ noch einen Koffer in…“ lautete diesmal das Motto des 38. Kissinger Sommers, der jedes Jahr für fünf Wochenenden und die Zeit dazwischen im Juni/Juli die wunderbaren Säle der Bad Kissinger Kuranlagen bespielt. Die sind längst UNESCO-Weltkulturerbe (mit neun anderen europäischen Spas) und die schönsten, großzügigsten, liebevoll gepflegten in Deutschland zumal.

„Berlin“, das war natürlich die Antwort auf den Koffer, und so ging es – nach Wien/Budapest/Prag und Italien diesmal, im dritten Jahr der Intendanz von Alexander Steinbeis, um die deutsche Hauptstadt und um die dort gern ausgebreitete musikalische Wundertüte. Von der erstaunlich vielfältig die Formationen von der Spree an die Saale kamen – das DSO und RSO, das Konzerthausorchester, die Berliner Philharmoniker in Gestalt ihrer Barocksolisten, der Rundfunkchor und der Rias Kammerchor, die Big Band der Deutschen Oper Berlin, die Komische Oper mit einem Barrie-Kosky-Hit und natürlich auch die Diseusen: Katherine Mehrling, Desirée Nick, Sharon Brauner, Tim Fischer, das Mokka Efti Orchester. Plötzlich mischen Drag Queens und ein Rave im Kurtheater die Kleinstadt positiv auf. Und Berlin, konnte sich, um mit einem der Programme zu sprechen, als „coole Sau“ feiern lassen.

Das letzte, dichtgedrängte Festival-Wochenende war freilich höchstens noch von einem Hauch Berlin durchtränkt (vor allem mit dem Berliner Felix Mendelssohn) – und von la Nick. Doch zunächst war es vor allem ein Pianistengipfel. Ein treuer Festivalgast wie Grigory Sokolov hat natürlich auch im auf Funzellicht heruntergedimmten Regentenbau carte blanche und spielt, was er diese Saison mag. Kurze Verbeugung, kein Publikumskontakt – und los.

Die erste Konzerthälfte ist streng kontrapunktisch strukturiert Johann Sebastian Bach gewidmet, die Partita c-Moll BWV 826, mit Tanzsätzen wie Courante und Sarabande sowie davor die vier Duette BWV 802-05. Da tanzen und zucken die Finger zweistimmig, doch die Musik bleibt in nie abreißendem Fluss, klar und doch bewegt, ohne jede Gehetztheit oder Nervosität. Hier gilt es der kühnen Komplexität von Harmonik, Stimmführung, Form; wobei der 74-jährige Sokolov bewundernswert das Tempo stetig hält.

Sehr ernst, ja grimmig in jedem Detail ausgekostet, nie nur schön, tänzerisch oberflächlich: sieben Chopin-Mazurken Op. 30 und Op. 50 nach der Pause. Die sind trotzdem in Eleganz gekleidet, agogisch souverän gegliedert mit Riterdandi wie Synkopen, sie weiten sich beinahe zu sprechenden Tondichtungen. Als offizielles Finale dann Robert Schumanns „Waldszenen“ op. 82, still, schön, zart versonnen, aber nie in Poesie, Kitsch gar zerfließend. Auch hier Stimmungszauber der ganz feinen Art, Waldweben leuchtet diskret, aber streng ausziseliert. Bis zuletzt der „Vogel als Prophet“ in zerbrechlich hoher Lage tastensingt.

Und dann natürlich die dritte Hälfte der obligatorischen sechs Zugaben mit Rameau, Chopin, Skrjabins zauberhaftem Prélude e-moll aus Op.11, Henry Purcells Chaconne G-Moll sowie der Busoni-Überschreibung von Bachs „Ich ruf‘ zu Dir, Herr Jesu Christ“ (BWV 638) aus dem Orgel-Büchlein.

Doch der Kissinger Sommer, das ist nach der gehaltvollen Transzendenz-Übung mit einem Klavier-Ganzgroßen auch das gelöste Loslassen im atmosphärischen Schmuckhof  bei Cocktails und Lounge-Klängen, das sind die in der Stadt verteilten Préludes als Vorschmeckerchen für das eigentliche Konzertereignis oder die gesprochene Reflektion, wenn der Intendant zu einem „Kaffee mit…“ Samstagfrüh in den Weißen Saal lädt. Vor vollem Haus ließ sich diesmal Desirée Nick auf das Dior-Rocktuch wie die spitzeste Zunge Deutschlands fühlen, ohne Tabus und ohne dass es zischelte.

Die gern schrille Grand Dame des Lästerns hatte bereits vor Tagen ihren Soloabend im Kurtheater in verbalem Glamour schillern lassen, und Sonntagnachmittag tanzte sie sogar: Zunächst überließ sie Bühne sieben weiteren Tänzern, die von  Andreas Heise choreografiert worden waren: einige von Mendelssohns „Lieder ohne Worte“ für drei Japanerinnen, Mozarts Klaviersonate Nr. 8 für eine Frau zwischen zwei Männern Mick lieferte nur poetisch vorgetragene eigene Zwischentexte in semitransparenter Korsettrobe.

Und dann schritt sie los, priesterlich, auch pathetisch die Arme führend, den Tanz als Religion beschwörend, sich von den anderen beweglich umspielen lassend. Um am Ende mit einem trocken „I’m fucking free“ in die Kulisse zu entschwinden. Als Musik dazu gab es die Suite e-moll für Laute solo BWV 996 in einer Bearbeitung für Violoncello und Love-Elektronik von Kian Jazdi und Arne-Christian Pelz. Für ihre Verhältnisse war das ein wenig brav, aber es offenbarte doch eine neue, ernstere Facette aus dem früheren Ballettleben der Desiree Nick, dem sie sich jetzt in ungewohnter Weise stellte: als hohe Priesterin ihrer Kunst.

Weitere Tastenwonnen bereiten im Rossini-Saal die beiden Klavier-Olympionikinnen vom Oktober 2023, die in ihrem Doppelkonzert mit Haydn, Schubert und Mendelsohn brillierende Italienerin Martina Consonni sowie die feinsinnige Französin Mirabelle Kajenieri mit Busoni (auch der aus Berlin), Ravel und Kreisler; sie umrahmt auch musikalisch die abendliche Bismarck-Lesung (noch so ein Berliner…der jahrelang in Kissingen kurte)  von Thomas Thieme. Am nächsten Morgen konzertiert dann das Deutsche-Grammophon-Duo Bomsori Kim und Rafal Blechacz, 2005 erster Pole als Gewinner des Warschauer Chopin-Wettbewerbes seit Krystian Zimerman im Rossini-Saal.

Sie spielt etwas eckig, doch er gleicht das schön weich und farbenvielstimmig aus. So wird besonders, nach Mozart, Beethoven und Brahms die jugendliche Violinsonate von Karol Szymanowski zum temperamentvoll-kontrollierten Klangereignis.

Zum zweiten Mal in dieser Sommersaison gastiert auch das Quasi-Hausorchester Bamberger Symphoniker. Am Pult steht der von ihnen hochgeschätzte Pole Krzysztof Urbanski, der mit fein dosierter Gestik vital und biegsam Mozarts „Zauberflöte“ wie als Zugabe die „Figaro“-Ouvertüre plastisch gestaltet. Der persischstämmige Vorarlberger Kian Soltani spielt mit routiniertem Schwung und balancierter Zartheit das Schumann-Cellokonzert. Dann schäumen die Saltarello-Rhythmen von Mendelssohns „Italienischer“ Sinfonie auf, die trotzdem klassizistisch ausbalanciert bleibt, plastisch belebt, mit zurückhaltenden Tempi.

Und zum Abschlusskonzert kommt extra aus Salzburg das Mozarteumorchester. Trevor Pinnock weiß ganz genau, wie er Mozarts Jupiter-Sinfonie aufzäumen muss, dass sie ihre Kontraste entfaltet, heroisch, aber auch flexibel glänzt. Eher ein laues Mendelssohn-Lüftchen war vorher die Hebriden-Ouvertüre. Während der immer noch jugendliche 29-jährige Kanadier Jan Lisiecki mit pointiert-flüssigem Anschlag und hellem Akkord-Stakkato Beethovens 1. Klavierkonzert als dynamisch-farbenreichen Wirbel dahinperlen lässt, mit ungemeinem Grazioso, aber auch temperamentvoll funkenstiebend. Das wirkt spontan und fröhlich, hat aber auch eine chevaleske Haudrauf-Attitüde, die diese Musik toll animiert.

Und so geht der Kissinger Sommer 2024 nach 57 Veranstaltungen in eine versöhnlich-fröhliche Schlussgerade.

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