Man versteht es nicht: Seit 150 Jahren wurde die in der fruchtbringenden Liszt-Ära in Weimar uraufgeführte Spieloper „Dame Kobold“ von Joachim Raff nicht mehr gegeben. Wieso? So reich ist das aktuelle Repertoire an heiterem Musiktheater teutonischer Provenienz nun eben nicht. Zwischen dem auch nur noch selten aufgeführten Albert Lortzing und dem „Rosenkavalier“ wird höchstens Wagners „Meistersinger“ gespielt, für die freilich auch nicht wenige zum Lachen in den Keller gehen. Gut also, dass man am Theater Regensburg wieder einmal gegen diese oftmals nur auf Dramaturgenfaulheit fußende Konvention ankämpft. Der nach Meinigen scheidende Intendant Jens Neundorff von Enzberg konnte nun doch noch seinen Raff-Spleen ausleben und sogar die äußert vitale, auch mit 81 Jahren nicht kürzer tretende Brigitte Fassbaender zu ihre dort fünften Regiearbeit überreden.
Das hat sich gelohnt. Der 1822 geborene, nur 60 Jahre alt gewordene Helvetische Tonsetzer, der sich lange Zeit bei Franz Liszt als Assistent und Orchestrator verdingt hatte, bis er schließlich als erster Direktor das Hoch‘sche Konservatorium in Frankfurt übernahm, kann als bedeutendster Komponist der Schweiz im 19. Jahrhundert gelten. Zu seiner Zeit wurde er Wagner und Brahms gleichgestellt, nach seinem frühen Tod dann schnell als Eklektiker vergessen. Als Symphoniker (11 Werke, alle mit Titeln) ist er schon wieder einigermaßen wachgeküsst, nicht so sehr im Konzertsaal, aber immerhin auf Tonträger, wo sich etwa Neeme Järvi nachdrücklich für ihn einsetzt. Als Opernkomponist (sechs Werke, nur drei überhaupt uraufgeführt) ist Joachim Raff noch zu entdecken. Denn er kann Melodien, mitunter sogar Schlager, er schreibt schöne Duette und Ensembles, nicht nur nach Schema F. Seine Musik ist pikant orchestriert, tänzerisch verbrämt und reuelos unterhaltend.
So wie die, ähnlich wie der glücklose Hugo Wolf 1896 im „Corregidor“, mit spanischen Idiomen spielende „Dame Kobold“ nach der einstmals sehr beliebten Verwechslungskomödie von Caldéron de la Barca. Die sei, so Brigitte Fassbaender, „eine ‚Lucia di Lammermoor‘ als Buffa“. Donizettis belcanteske Gattenmörderin hat sie zuletzt hier auf die Bühne gebracht, nun als das komische Gegenteil einer Schwester, die ebenfalls vom Bruder verheiratet werden soll und mithilfe einiger mild übersinnlicher Streiche sich den von ihm auserwählten, ihr unbekannten Mann vom Leibe halten will – obwohl es doch der ist, in den sie sich sowieso verliebt hat.
Das übliche Komödien-Qui-pro-Quo, mit leider einem schwachen Libretto, das Problem allzu viel deutscher Opern, trotzdem originell aufgedröselt. Das beginnt schon mit der flotten Ouvertüre, die noch bisweilen in Wunschkonzerten gespielt wird. Der souveräne Dirigent Tom Woods macht vergessen, dass das Philharmonische Orchester Regensburg mit nur einem Drittel seiner Größe angetreten ist: 21 Musiker spielen mit Verve und bunten Farben für 200 Zuschauer. Der handlungsmäßig nicht wichtige Chorpart wurde weggelassen, ebenso die Rezitative und ein paar Wiederholungen. So kommt man auf eine schlanke Corona-Fassung von 100 Minuten, Pause inklusive, und wird doch gut unterhalten, weil die Regie gnadenlos flott aufs Tempo drückt, dem netten Opernchen ordentlich Rhythmusbeine und sogar den Zwei-Meter-Hygieneabstand vergessen macht.
Bettina Munzer lässt die Drehbühne wirbeln, zeigt eine düster schwarzweiß mit Quaderwänden gesäumte Straße, ein ebensolches Gästezimmer und das buntopulent kitschige Boudoir von Donna Angela, die dank einer dauernd rotierenden Geheimtür ihre allzu menschlichen Zauberlehrlingstrickkünste virtuos entfalten kann. Anna Sophie Lienbacher schuf augenzwinkernd mit Spanien-Fetischen spielende Kreischkostüme, und Sara Maria Saalmann ist nicht nur eine soprankesse Zofe, sondern choreografierte sich auch noch diverse Fandango-Posen auf den schlanken Leib und den der Statisten. „El café de Chinitas“ von Federico García Lorca darf sie zudem zur Gitarre als Einlage singen.
Brigitte Fassbaender gibt unbekümmert und handwerklich top dem Komödienäffchen Zucker, lässt ihre nur fünf Personen über Sofas und durch Gittertüren toben, nimmt nichts ernst und zieht eigentlich jeden Charakter professionell durch den Kakao. Johannes Mooser ist der hagestolze Bruder, der sich im Nachthemd und lila Bademantel auslachen lassen muss. Oreste Cosimo schnalzt in tenoral schlanker Papagallo-Manier trotz Pflaster auf der Nase den Liebhaber Don Manuel. Oliver Weidinger ist sein knurriger Diener Leporello, der hier Rodrigo heißt. Und über allem glänzt und koloraturgleißt Anna Pisareva als flirrend flirtende Spielmacherin und weiße Dame Donna Angela, die zum Schluss in schönster Rossini-Manier ein Finalrondo über „das Glück ihres Lebens“ abbrennen darf.
Das macht Laune, selbst in Corona-Zeiten und das Theater Regenburg hat wiedermal ein spielenswertes Werk dem Vergessen entrissen. Hoffentlich also bald wieder mehr Opernnachruhm für Raff! Und wieder einmal wird der Wunsch laut nach einer deutschen Stiftung Palazzetto Bru Zane, die wie diese sich des französischen Opernrepertoires des 19. Jahrhunderts, der klingenden Hinterlassenschaft jener Zeit diesseits des Rheins annimmt…